Politik ist nicht nur gut und böse

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Die Gelbwesten mischen Frankreich auf, der Brexit lähmt Parlament und Regierung in Grossbritannien. Staatliche und gesellschaftliche Institutionen verlieren an Zustimmung. Blockiert Europa sich selbst?

Die Gelbwesten in Frankreich wehren sich gegen die Steuererhöhung auf Benzin – aber auch per se gegen Präsident Macrons Reformpolitik. (Bild: Benoit Tessier / Reuters)

Die Gelbwesten in Frankreich wehren sich gegen die Steuererhöhung auf Benzin – aber auch per se gegen Präsident Macrons Reformpolitik. (Bild: Benoit Tessier / Reuters)

2018 geht turbulent zu Ende, und auch im nächsten Jahr wird es stürmisch bleiben. Die drei bedeutendsten europäischen Länder befinden sich in einer Krise. Diese Krisen haben zwar jeweils ganz eigene Ursachen, aber führen zu durchaus ähnlichen Ergebnissen: zur Blockade des politischen Systems. Die Franzosen haben wieder einmal das getan, was sie am liebsten tun: Sie spielten die grosse Revolution nach und offenbarten damit die Schwäche nicht nur ihres Präsidenten, sondern der gesamten Republik.

Grossbritannien hadert mit der konkreten Ausgestaltung des Brexit, die je nach Lesart zu hart oder zu weich, auf jeden Fall nicht angemessen ist. Und Deutschland durchleidet ratenweise das Ende einer überlangen Kanzlerschaft mit allen Zerfallserscheinungen. Diese drei Nationen sind auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt, mit allen Konsequenzen für Europa als Ganzes.

Gewinner und Verlierer

Frankreich erlebt immer wieder Eruptionen der Gewalt, doch diesmal ging die Zahl der Verletzten und Todesopfer über das Mass hinaus, an das sich das Land gewöhnt hat. Vor allem demonstrierte und randalierte nicht eine einzelne Interessengruppe, sondern die untere Mittelschicht als diffuser und ungreifbarer Pöbel. Die Proteste machen den sklerotischen Sozialstaat französischer Prägung sichtbar. Obwohl das Land die höchste Steuerlast aller OECD-Länder trägt, empfinden die «gilets jaunes» die Umverteilungsmaschinerie als ungerecht.

Im Dickicht der Ansprüche und Erwartungen glaubt jede Gruppe, zu kurz zu kommen. Das kollektive Gefühl der Benachteiligung verhindert zuverlässig Reformen. Veränderungen bringen Gewinner und Verlierer hervor. Für den Zorn der Letzteren spielt es dann keine Rolle, ob der Wandel im Interesse der Gesamtgesellschaft liegt.

In Paris kommt es den fünften Samstag in Folge zu Protesten der «gilets jaunes». Nach Angaben des Innenministeriums sind es bis zum Nachmittag 2200 Menschen (15. Dezember). (Bild: Benoit Tessier / Reuters)

So entstand die Bewegung der Gelbwesten nicht nur aus der Verärgerung über die Treibstoffsteuern, sondern auch wegen der Abschaffung der Vermögenssteuer im letzten Jahr. Der Unmut bestätigt den Befund des Historikers Edward Palmer Thompson über Volksaufstände in Grossbritannien im 18. Jahrhundert: Auslöser waren nicht steigende Brotpreise allein; diese wurden im Rahmen einer üblichen Schwankung durchaus akzeptiert. Zu Unruhen kam es, wenn der Anstieg als unfair empfunden wurde. Es gibt also, so folgerte Thompson, neben der Ökonomie von Angebot und Nachfrage noch eine «moralische Ökonomie».

Der komplexe Sozialstaat, der viel gibt, aber auch viel nimmt, überfordert das natürliche Gerechtigkeitsempfinden. Präsident Emmanuel Macron wird es daher nicht viel nutzen, einzelne Abgaben zu senken und neue Wohltaten einzuführen. Die Massnahmen dämmten die Krawalle zwar ein, am Gefühl der Ungerechtigkeit ändert dies aber nichts.

«In Frankreich hat die ‹moralische Ökonomie› der Institutionen versagt.»

Die Wahrnehmung, dass es fair zugeht, hängt nicht allein von der Höhe der materiellen Zuwendungen ab. Mindestens genauso wichtig ist, dass Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Kirchen und Unternehmen eine als legitim empfundene Ordnung schaffen. Funktionierende Institutionen sind die Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft. Sie bilden das Gerüst, das Halt gibt. Traditionelle Bindungen lockern sich in allen Industriestaaten, doch beschleunigen Globalisierung und Digitalisierung den Trend. Die Unzufriedenen benötigen keine herkömmlichen Organisationen, um zu protestieren. Die sozialen Netzwerke genügen ihnen.

Das Institutionengefüge Frankreichs hat unter der Erosion der Parteien und der Orientierungslosigkeit der Gewerkschaften gelitten. Macron hat die Entwicklung nicht verschuldet, wie ihm vorgeworfen wird; seine Bewegung La République en Marche ist vielmehr deren Folge – wie die Gelbwesten auch. Das sind die ungleichen Zwillinge des Wandels. Immerhin gelang es Macron, den ausgezehrten etablierten Kräften eine frische Gruppierung entgegenzusetzen. Dies bleibt das Verdienst des ungestümen Präsidenten, auch wenn sich nun zeigt, dass die Begeisterung für das Neue kein Ersatz ist für gewachsene Loyalität.

Populisten sind nur Trittbrettfahrer

In Frankreich hat die «moralische Ökonomie» der Institutionen versagt. Der Niedergang der Konservativen und der Sozialisten liess ein Vakuum entstehen, das andere nun füllen. Die Populisten, angeblich die Hauptgefahr für die Demokratie, profitieren allenfalls als Trittbrettfahrer. Die «gilets jaunes» fanden nicht deshalb zusammen, weil Jean-Luc Mélenchon oder Marine Le Pen sie aufgehetzt hätten. Die Populisten wurden von den Protesten überrascht, und seither versuchen sie, diese für sich zu vereinnahmen. Doch neben der spontanen Manifestation der Massen sehen die selbsternannten Repräsentanten des Volkswillens ziemlich alt aus.

Zugleich zeigt das Beispiel Frankreich, wie kurzsichtig es ist, Politik allein auf den Gegensatz von Gut und Böse, von Etablierten und Populisten zu reduzieren. Als Macron über Le Pen triumphierte, kehrte man zufrieden zum Alltag zurück. Das Gute hatte schliesslich gesiegt. Am eigentlichen Problem, dem Legitimitätsverlust des politischen Systems, änderte dies jedoch nichts.

Zocker in der Downing Street

Auch der Brexit ist keine Ausgeburt eines populistischen Hirns, sondern das Resultat eines seit den achtziger Jahren anschwellenden Bocksgesangs in der Konservativen Partei. Für den Austritt aus der EU trommelten zwar andere, doch das Referendum setzte Premierminister David Cameron an. Seither befindet sich Grossbritannien im Zustand einer fortschreitenden politischen Paralyse. Number 10 Downing Street als erstes Spielkasino des Landes und dessen Bewohner als oberste Zocker – so ganz hat einen dieser Eindruck nicht mehr verlassen. Die Tories wirken nicht wie eine handlungsfähige Regierungspartei, sondern wie ein Debattierklub zankender Rechthaber.

Das britische Kabinett billigt am Mittwoch (14. 11.) nach stundenlanger Debatte das Brexit-Abkommen, nun braucht es noch die Zustimmung des Unterhauses zum über 500 Seiten starken Werk. Bild: Vor dem Amtssitz an der Downing Street demonstrieren Briten für einen «harten» Brexit. (Bild: Pete Maclaine / Imago)

Die Regierungschefin Theresa May hat ebenfalls Schaden genommen – und mit ihr das Amt. Auch das Parlament macht keine gute Figur, ganz zu schweigen von Neunmalklugen wie Tony Blair, die in einem zweiten Referendum den Ausweg aus dem Stillstand sehen. Nichts dürfte zuverlässiger das Gefühl befördern, der Volkswille sei der Spielball der Eliten, als ein neuerlicher Urnengang. Das Vertrauen in die Institutionen verdunstet auf diese Weise wie Wasser in der Wüste. Macron ist angeschlagen, Merkel auch und May erst recht. Von ihnen sind keine Initiativen zur Belebung eines stagnierenden Kontinents zu erwarten.

Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Nationen. In der Selbstblockade der deutschen Regierung manifestiert sich zwar die Kehrseite jener Kontinuität, welche die Bundesrepublik auszeichnet: Nicht enden wollende Kanzlerschaften münden irgendwann in allgemeine Erschöpfung. Die politischen Institutionen aber sind intakt.

Der Föderalismus garantiert unterschiedliche Machtzentren, und die vielen Landtagswahlen wirken wie lauter Plebiszite zur Arbeit der Bundesregierung. Das fördert die Teilhabe der Bürger und damit die Legitimität des Systems mehr, als die zentralistischen Modelle in Paris und London es tun. Zwar fällt in Deutschland – landestypisch – das Wehklagen über das zersetzende Gift der Politikverdrossenheit am lautesten aus. Doch sobald eine neue Koalition und neue Gesichter das Bild in Berlin prägen, wird sich der Stillstand lösen.

Fingerzeig für die Schweiz

Auch wenn sich die Schweiz der Illusion hingibt, mit dem Rest von Europa nur wenig und allenfalls wirtschaftlich zu tun zu haben, vermitteln die Entwicklungen ringsum einen Denkanstoss für das anstehende Wahljahr. Auch die Schweiz muss mit ihren Institutionen pfleglich umgehen. Attacken auf die Justiz und Klagen über die Missachtung des Volkswillens schwächen das sorgsam austarierte Gefüge.

Die Schweiz sieht sich als direkte Demokratie und ist doch eine gemischte Staatsform mit starken repräsentativen Elementen. Parlamente und Gerichte bedrohen nicht die Volksherrschaft, sondern sind deren Ausdruck. Wer dies mit permanenter Agitation in Zweifel zieht und stattdessen allein das Plebiszit gelten lässt, untergräbt die Demokratie, die er zu schützen vorgibt. Die Schweiz mag eine Insel der Glückseligen sein, der Wohlstand dämpft vieles, aber niemand sollte sich selbst täuschen. Kein Land ist immun gegen den Bazillus des Vertrauensverlusts, der derzeit in der Luft liegt.

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