Bereits 2017 waren beim „Spiegel“ hausintern massive Widersprüche in einer Reportage von Claas Relotius aufgefallen. Doch die Hinweise von Kollegen blieben folgenlos.
Claas Relotius‘ Reportage über zwei Jungen in der Macht der Terrormiliz IS © Screenshot www.spiegel.de am 22.12.2018 um 15.01 Uhr
Der Hochstapler Claas Relotius hätte im Spiegel wohl schon viel früher gestoppt werden können, wenn die Verantwortlichen auf hausinterne Einwände gehört hätten. Nach Recherchen der ZEIT waren Redakteuren von Spiegel TV bereits im ersten Halbjahr 2017 massive Widersprüche in einer Reportage von Relotius aufgefallen. Relotius hatte die Geschichte zweier angeblicher Brüder aus dem Nordirak erzählt, die vom „Islamischen Staat“ als Kindersoldaten rekrutiert und zu Selbstmordattentätern ausgebildet worden waren. Einer der beiden, ein Junge namens Khalid, habe sich 2016 in Kirkuk in die Luft gesprengt. Sein Bruder Nadim, der ebenfalls mit einem Sprengstoffgürtel ausgestattet losgeschickt worden war, habe das Attentat in letzter Sekunde abgebrochen und sich der Polizei ergeben. So erzählt es Relotius in seiner großen Reportage Löwenjungen, erschienen in der Spiegel-Ausgabe vom 18. Februar 2017.
Als ein Reporter von Spiegel TV einige Wochen später allerdings im Nordirak nachforschte, um die Geschichte zu verfilmen, stieß er auf massive Widersprüche. Manche Ortsbeschreibungen und manche Namen sollen nicht gepasst haben. Nadim und Khalid gibt es zwar, sie sind aber offenbar keine Brüder. In dem Film, den Spiegel TV am 30. April 2017 sendete, zweieinhalb Monate nach Relotius‘ Reportage, wird Nadim interviewt. Khalid wird nur als „ein weiterer Kindersoldat“ eingeführt, dessen Geschichte allerdings nicht weiter auserzählt wird.
Mich hat zu keinem Zeitpunkt irgendwoher irgendein Hinweis erreicht, dass mit Claas Relotius‘ Geschichten etwas nicht stimmt.
Matthias Geyer, Ressortleiter beim „Spiegel“
Nach der Rückkehr des Teams von Spiegel TV aus dem Nordirak, so heißt es im Spiegel, sollen die TV-Kollegen ihre Rechercheergebnisse im Spiegel vorgetragen haben. Daraufhin habe sich Relotius bei Spiegel TV gemeldet und seine Geschichte vehement verteidigt. Am Ende entschied sich Spiegel TV dafür, einen Beitrag zu senden, der die Fehler in der Heftgeschichte umging, aber nicht korrigierte. Unklar ist, bei wem genau im Spiegel die Hinweise damals vorlagen. Relotius‘ direkter Vorgesetzter, der Leiter des Ressorts Gesellschaft, Matthias Geyer, sagt auf Anfrage der ZEIT: „Mich hat zu keinem Zeitpunkt irgendwoher irgendein Hinweis erreicht, dass mit Claas Relotius‘ Geschichten etwas nicht stimmt.“ Im Verlag heißt es, Relotius, der zum Zeitpunkt seiner Irak-Reportage noch als freier Autor arbeitete, sei es damals gelungen, die Zweifel zu zerstreuen.
Wären Relotius‘ Vorgesetzte den Hinweisen der TV-Kollegen nachgegangen, wäre der Schwindel weitaus früher aufgeflogen. Zum Zeitpunkt seiner Kurdistan-Reportage war Relotius noch nicht fest angestellt, sondern arbeitet als freier Autor für das Blatt. Der Spiegel will sich dazu nicht äußern, sondern „den Fall Relotius im Ganzen aufklären und das dann dokumentieren, so wie es sich gehört“.
Relotius hat mittlerweile eingeräumt, dass weite Teile der Löwenjungen-Reportage erfunden sind und er den Jungen Nadim nur kurz interviewen durfte. Eine Anfrage der ZEIT dazu ließ Relotius unbeantwortet.
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