Sozialleistungen und Geringverdiener

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Wie der Staat die Fleißigen bestraft

Der Sozialstaat hat ein Gerechtigkeitsproblem: Für Geringverdiener lohnt es sich oft kaum, mehr zu arbeiten. Manchmal werden sie sogar bestraft. Es gäbe Lösungen – doch die rechnen sich für die Politik selten.

Jens Kalaene / picture alliance / ZB

Bäckerei in Schwante, Brandenburg

Der deutsche Sozialstaat ist umfassend ausgebaut, finanziell gut ausgestattet – und mitunter eine grandiose Fehlkonstruktion. Das zeigt ein fiktives Beispiel aus dem Jahr 2016. Einer Alleinerziehenden – nennen wir sie Sandra D. – war eine Beförderung angeboten worden, von der einfachen Sachbearbeiterin zur stellvertretenden Gruppenleiterin. Allerdings unter der Bedingung, ihre Arbeitszeit von 20 auf 30 Stunden pro Woche zu erhöhen.

Für Frau D. eine erhebliche Anstrengung: noch weniger Zeit für ihre acht und neun Jahre alten Söhne, für den Haushalt und erst recht für sich selbst. Noch ein Nachmittag mehr, den ihre Kinder in der Betreuung verbringen, natürlich zu höheren Kosten. Dafür würde sie nun deutlich mehr verdienen, 2500 Euro brutto statt wie bislang 1400 Euro. Immerhin eine lohnende Anstrengung also – sollte man denken.

Doch nach der ersten Gehaltsabrechnung im neuen Job hätte Sandra D. die Welt wohl nicht mehr verstanden. Denn nun blieben ihr noch 2065 Euro im Monat – statt wie bislang 2100 Euro. Aus 1100 Euro mehr Bruttolohn wurden 35 Euro weniger verfügbares Einkommen. Wie konnte das sein?

Auch wenn es Sandra D. nicht wirklich gibt: Exakt so wäre es einer Alleinerziehenden in ihrer Situation ergangen. Ihr Fall zeigt, wie kontraproduktiv der deutsche Sozialstaat wirken kann. Er ist ein mitunter undurchdringbar verästeltes Dickicht vieler verschiedener Leistungen, die teils extrem schlecht aufeinander abgestimmt sind. Ein Sozialstaat überdies, der oft die falschen Anreize setzt. Und der so dazu beiträgt, dass jene dauerhaft auf ihn angewiesen bleiben, die eigentlich das Potenzial haben, ohne ihn auszukommen: Geringverdiener, die ihre Arbeit ausweiten könnten.

Der blinde Fleck

Dass sich mehr Arbeit für sie oft kaum auszahlt, ist ein zentrales Problem – da sind sich Experten aller Denkschulen einig. Diskutiert wird in der neuerdings wieder sehr intensiven Sozialstaatsdebatte aber meist über anderes. Es geht um Sanktionen, die Höhe des Regelsatzes oder die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld.

Die enormen Hürden, die der Sozialstaat jenen setzt, die ihm entkommen könnten, sind dagegen kaum ein Thema. Wie kann das sein?

Zum Teil liegt es sicher daran, dass die Materie komplex ist. Im Fall Sandra D. hatten vor der Gehaltserhöhung außer dem Kindergeld zwei weitere Sozialleistungen ihr Einkommen von 1400 brutto auf 2100 Euro gesteigert: Kinderzuschlag und Wohngeld. Beide Leistungen werden unabhängig voneinander bei steigendem Einkommen gekürzt, gleichzeitig werden aber höhere Steuern und Sozialabgaben fällig. Kombiniert kann das dazu führen, dass Geringverdiener für jeden zusätzlich verdienten Euro mehr als einen Euro abgezogen bekommen.

Für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern über sechs Jahren bedeutete das im Jahr 2016, dass ihr Nettoeinkommen ab einem Bruttoverdienst von 1700 Euro sank. Erst ab 2500 Euro durfte sie von jedem zusätzlich verdienten Euro wieder etwas behalten, und erst bei 2750 Euro hatte sie wieder das gleiche Nettoeinkommen, das sie bereits mit 1700 Euro brutto hatte. Die Grafik zeigt den damaligen Verlauf:

Achtung, mehr Gehalt! Alleinerziehende im Jahr 2016
So veränderte sich das Netto-Einkommen bei steigendem Brutto-Gehalt (Stand 2016). Familie: Alleinerziehende mit 2 Kindern (je 8 bis 12 Jahre), Miete 510 Euo inkl. Heizkosten

Brutto-Einkommen in EuroNetto-Einkommen in Euro 050010001500200025003000050010001500200025003000

Quelle: Ifo-Institut, IAB-Mikrosimulationsmodell

Immerhin: Seit dem Sommer 2017 ist dieser krasse Missstand behoben. Damals trat die Reform des Unterhaltsvorschusses in Kraft, den die Alleinerziehende fortan statt des Kinderzuschlags erhalten hätte und der unabhängig vom Einkommen in gleicher Höhe bezahlt wird. Seitdem dürfte Sandra D. von jedem zusätzlich verdienten Euro etwas behalten und hätte mit rund 2500 Euro netto auch deutlich mehr zur Verfügung als zuvor.

Allerdings gibt es nach wie vor Konstellationen, in denen mehr Brutto für Geringverdiener weniger Netto bedeutet. Das wird am Beispiel einer Familie mit zwei Eltern und zwei Kindern deutlich, wie es die folgende Grafik darstellt: Ab einem Bruttoverdienst von mehr als 2450 Euro hat die Familie effektiv weniger Geld, erst bei 2930 Euro brutto ist sie wieder auf dem gleichen Netto-Niveau. Auch hier ist die mangelhafte Abstimmung der beiden Sozialleistungen Kinderzuschlag und Wohngeld der Grund. Und auch hier hat die Bundesregierung reagiert: Durch die Reform des Kinderzuschlags wird das Problem in diesem und kommenden Jahr etwas gemildert, aber nicht vollständig behoben.

Achtung, mehr Gehalt! Familie mit zwei Kindern
So verändert sich das Netto-Einkommen bei steigendem Brutto-Gehalt: Familie: Zwei Erwachsene, zwei Kinder (4 und 8 Jahre), Miete 649 Euro inkl. Heizkosten, Alleinverdiener

Brutto-Einkommen in EuroNetto-Einkommen in Euro 050010001500200025003000050010001500200025003000

Quelle: IAB

Doch die Wechselwirkungen schlecht aufeinander abgestimmter Sozialleistungen sind nur ein Teil des Problems. Das belegt eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die Experten des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit haben zahlreiche Familienkonstellationen daraufhin untersucht, wie sehr es sich für Geringverdiener lohnt, ihren Verdienst zu steigern.

Das Ergebnis: Selbst wenn Geringverdiener ausschließlich eine einzige Sozialleistung beziehen, setzt das System falsche Anreize.

So etwa bei einem Single in Hartz IV, der für Miete und Heizung 349 Euro bezahlt. Die folgende Grafik zeigt, wie sich sein Nettoeinkommen verändert, wenn er seinen Bruttolohn steigert: Die ersten 100 Euro darf er voll behalten. Darüber hinaus wird ihm für jeden zusätzlich verdienten Euro der Regelsatz gekürzt, und zwar

  • im Bereich zwischen 100 und 1000 Euro um 80 Cent,
  • im Bereich zwischen 1000 und 1200 Euro um 90 Cent
  • und im Bereich zwischen 1200 und 1420 Euro um den kompletten Euro.

Mehr Gehalt, kaum mehr Geld: Singles
So verändert sich das Netto-Einkommen bei steigendem Brutto-Gehalt für Alleinstehende, Miete 349 Euro mit Heizung

Brutto-Einkommen in EuroNetto-Einkommen in Euro 050010001500200025003000050010001500200025003000

Quelle: IAB

Konkret bedeutet das: Mit einem 450-Euro-Job hat der Single bereits 170 Euro mehr im Monat. Wenn er seine Arbeitszeit mehr als verdoppelt und 1000 Euro brutto im Monat verdient, erhöht er sein Nettoeinkommen lediglich um weitere 110 Euro. Noch mehr zu arbeiten, lohnt sich bis zur Grenze von 1420 Euro kaum noch – sein Nettoeinkommen steigt lediglich um 20 Euro. Erst danach bleibt ihm von einem höheren Bruttolohn auch spürbar etwas – weil er dann aus dem Hartz-IV-System kommt und nur noch Steuern und Sozialabgaben abgezogen werden.

„Das Signal ist: Ihr dürft maximal marginal arbeiten. Und je mehr ihr arbeitet, desto mehr bestrafen wir euch“, bringt es der Ökonom Andreas Peichl vom Ifo-Institut auf den Punkt. Dabei belegen inzwischen zahlreiche Studien, dass Minijobs Langzeitarbeitslosen keinen Ausweg aus dem Hartz-IV-System bieten. Sie tragen sogar dazu bei, dass viele Bezieher auf Dauer in der Grundsicherung bleiben – im Gegensatz zu regulären Teilzeitjobs, bei denen es viel häufiger gelingt, die Arbeitszeit auszudehnen oder auf eine besser entlohnte Position zu wechseln.

Video zur Grundrente: „Ich möchte in Würde altern können“


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Wenig Lohn = hohe Abzüge. Hoher Lohn = wenig Abzüge

Viele Experten fordern daher, die Anreize exakt anders herum zu setzen. Das radikalste Konzept für eine solche Reform hat jüngst das Ifo-Institut vorgelegt. Peichl und seine Kollegen schlagen vor, dass Singles von den ersten 630 Euro ihres Lohns überhaupt nichts mehr behalten dürften – von jedem Euro über dieser Grenze jedoch 40 Cent statt bislang nur 20 Cent, 10 Cent oder gar nichts. So würden Kleinst- und Minijobs für sie völlig unattraktiv – und nebenbei der bisherige Anreiz beseitigt, einen offiziellen 100-Euro-Job mit Schwarzarbeit zu kombinieren. Deutlich attraktiver würden hingegen sozialversicherungspflichtige Teilzeitjobs. In der Folge, so argumentieren die Forscher, würden Arbeitgeber viele Minijobs in diese regulären Arbeitsplätze umwandeln, weil weit weniger Menschen für 450 Euro oder weniger arbeiten wollen.

Während es bei Singles also Verlierer und Gewinner der Reform gäbe, würden Hartz-IV-Bezieher mit Kindern im Ifo-Konzept in jedem Fall bessergestellt. Denn für sie bliebe es bis zur 630-Euro-Grenze bei der bisherigen Regelung – die Ifo-Ökonomen gestehen ihnen zu, dass es „wegen der Kinderbetreuung deutlich schwieriger ist, länger zu arbeiten“.

Ein ganz ähnliches, wenngleich weniger radikales Modell schlägt das IAB vor. Die Experten wollen den Freibetrag auf 50 Euro halbieren und dann den Betrag, den Geringverdiener von ihrem Lohn behalten dürfen, stufenweise erhöhen – von 10 Cent pro Euro auf 40 Cent ab einem Einkommen von 450 Euro.


Grundsicherung Was an Hartz IV wirklich abgeschafft gehört

Auch in der Politik kommt das Thema langsam an. Sowohl die Grünen als auch die FDP haben Ifo-Forscher Peichl und seine Kollegen jeweils verschiedene Varianten durchrechnen lassen. Keine davon ist so radikal wie das Ifo-eigene Konzept, aber alle setzen deutliche Anreize, länger zu arbeiten – oder sich zu qualifizieren, um eine besser bezahlte Stelle besetzen zu können.

Dennoch: Die Chancen, dass sich eines der Konzepte umsetzen lässt und Geringverdiener bald nicht mehr dafür bestraft werden, ihre Löhne zu steigern, sind verschwindend gering. Dafür gibt es gleich eine Reihe von Gründen:

  • Der Sozialstaat müsste in großem Stil umgebaut werden: Es würde wenig helfen, einfach nur die Zuverdienstregeln für einzelne Sozialleistungen – etwa Hartz IV – zu ändern. Denn ein Großteil der Probleme resultiert ja aus dem Zusammenspiel dieser Regeln für verschiedene Sozialleistungen. Alle genannten Reformkonzepte sehen deshalb als zwingende Voraussetzung vor, zumindest drei dieser Sozialleistungen zu einer einzigen zusammenzulegen.
    Das aber wäre ein politischer und organisatorischer Kraftakt: Derzeit sind drei verschiedene Bundesministerien zuständig – das Arbeitsministerium für Hartz IV, das Familienministerium für den Kinderzuschlag, das Innenministerium für das Wohngeld. Für eine Reform müssten zwei der Ministerien darauf verzichten. Eine Familienministerin könnte sich dann künftig nicht mehr mit einem „Starke-Familien-Gesetz“ profilieren, ein Innenminister nicht mehr mit einem Wohngeldzuschlag. Auch für die Verwaltung müsste ebenfalls eine neue, einheitliche Lösung gefunden werden – nur wo? In den Jobcentern? Den Sozialämtern? Oder doch gleich beim Finanzamt?
  • Entweder teuer – oder brutal: Es ist zwar durchaus möglich, die Zuverdienstregeln so zu ändern, dass niemand schlechter dasteht als bislang – aber dann wird es teuer. Das zeigen die Berechnungen des Ifo-Instituts im Auftrag der Grünen. Bereits die am wenigsten großzügige Variante – in der Geringverdiener von jedem Euro 30 Cent behalten dürfen – kostet demnach 9,35 Milliarden Euro im Jahr. Dürften Geringverdiener hingegen 40 Cent von jedem Euro behalten, stiegen die Kosten bereits auf 21 Milliarden Euro im Jahr, obwohl in dieser Variante der 100-Euro-Freibetrag gestrichen würde. Soll die Reform aber nichts zusätzlich kosten, wird es auch Verlierer geben müssen, wie es bei den Konzepten von Ifo-Institut und FDP der Fall ist. Konkret wären das die jetzigen Minijobber in Hartz IV, von denen nicht alle ihre Arbeitszeit erhöhen können, um den Verlust auszugleichen.
  • Millionen neuer Hartz-IV-Bezieher: Alle Reformkonzepte würden die Zahl derjenigen sprunghaft erhöhen, die ein Recht auf die neue, integrierte Grundsicherung haben. Denn wenn diese Leistung bei steigendem Lohn wesentlich langsamer abgeschmolzen wird als bislang, erhält man sie zwingend logisch auch bei wesentlich höheren Löhnen als bislang. Vor allem deshalb würde eine Reform auch sehr teuer werden.
    Um die Dimension zu verdeutlichen, die die Zahl neuer Leistungsempfänger annehmen kann: Beim IAB-Konzept, bei dem man von jedem Euro über 450 Euro 40 Cent behalten darf, hätte die gesamte untere Lohnhälfte der Bevölkerung einen Anspruch. Auch deshalb sieht das IAB-Konzept vor, einen völlig neuen Status oberhalb des klassischen Hartz-IV-Systems zu schaffen. Ab einer Grenze von 1200 Euro (bei Singles) würde das Jobcenter das Einkommen zwar noch aufstocken und Qualifizierungen oder Arbeitsvermittlung anbieten. Bezieher hätten aber keine Pflichten und müssten also auch keine Sanktionen mehr fürchten.
  • Viele Risiken, kaum Chancen für die Parteien: Polittaktisch betrachtet gibt es bei diesem Thema wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Das liegt auch daran, dass es sich um ein komplexes Problem handelt, das zudem nur sehr wenigen Wählern überhaupt bewusst ist. Wer laut die Abschaffung von Sanktionen fordert, kann sich sicher sein, dass ihn die meisten Menschen verstehen. Das Gleiche gilt für die Erhöhung des Regelsatzes. Wer aber im Wahlkampf auf einer Marktplatzbühne die Absenkung der Transferentzugsrate – so lautet der Fachbegriff – verspricht, dürfte zumeist in leere Gesichter blicken.
    Zudem böte eine Reform dem politischen Gegner viel Munition. Eine Regierung, die sie umsetzt, müsste sich von Opposition und Sozialverbänden vorhalten lassen, dass nun jeder zweite Arbeitnehmer seinen Lohn mit Hartz IV aufstocken muss. Einen Vorgeschmack liefert die Reaktion von SPD-Chefin Andrea Nahles auf das Reformkonzept der Grünen. Ihr reichten zwei Zahlen, um die vermeintliche Unsinnigkeit zu belegen: „vier Millionen Empfänger mehr, Mehrkosten von 30 Milliarden Euro im Jahr“.

So bleibt dem deutschen Sozialstaat wohl noch länger ein Problem erhalten, über dessen Dringlichkeit sich eigentlich alle Experten einig sind – und für dessen Lösung bereits schlüssige Konzepte vorliegen.

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