Wie man sich mit Mathematik lächerlich macht und was Investoren daraus lernen können

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Weil er die Mathematik des eigenen Risikomodells nicht kapierte, erntete ein Goldman-Sachs-Banker Hohn und Spott. Dabei sind die Grundlagen so einfach, dass auch Privatanleger davon profitieren können.

Manche Schüler haben ein intuitives Verständnis von Mathematik, im Gegensatz zu David Viniar, dem Ex-CFO von Goldman Sachs. (Bild: NZZ / Matthias Wäckerlin)

Manche Schüler haben ein intuitives Verständnis von Mathematik, im Gegensatz zu David Viniar, dem Ex-CFO von Goldman Sachs. (Bild: NZZ / Matthias Wäckerlin)

Es gibt viele Dinge, mit denen man sich lächerlich machen kann. David Viniar, während der Finanzkrise CFO von Goldman Sachs, hat es mit Mathematik geschafft. Angesichts der grossen Verluste seiner Anlagen erklärte er im August des Jahres 2007: «Wir haben Kursbewegungen gesehen, die einer Standardabweichung 25 entsprachen, und das an mehreren Tagen hintereinander.»

Was Viniar als Erklärung anführte, ist so haarsträubend selten, dass ihm dafür von allen Seiten förmlich Hohnlachen entgegenschallte. Zum besseren Verständnis: Wer 14 Mrd. Jahre wartet, also so lange wie unser Universum existiert, sieht normalerweise nicht einmal ein Ereignis von 9 Standardabweichungen. Wenn Goldman Sachs im August 2007 mehrere Ereignisse von 25 Standardabweichungen hintereinander beobachtet hat, handelte es sich in der Tat um einen aussergewöhnlichen Monat. Genauer gesagt um den aussergewöhnlichsten seit dem Urknall. Entweder das, oder die Modelle von Goldman Sachs waren falsch.

Ein Fall der Tschebyscheff-Ungleichung?

Einige Verteidiger sprangen David Viniar allerdings argumentativ bei. Sie wiesen darauf hin, dass Viniar keineswegs von einer Normalverteilung ausgegangen sei, als er seine Aussage gemacht habe; vielmehr habe er sich auf die Tschebyscheff-Ungleichung bezogen. Diese besagt, dass nicht mehr als 1/k2 der Verteilungswerte mehr als k Standardabweichungen vom Mittelwert entfernt sein können (oder äquivalent dazu: Mindestens 1−1/k2 der Verteilungswerte liegen innerhalb von k Standardabweichungen vom Mittelwert).

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Ein 25-Standardabweichungen-Ereignis ist dann deutlich wahrscheinlicher. Im Durchschnitt tritt es alle 625 Tage auf. David Viniar sprach allerdings von «mehreren Tagen hintereinander». Wenn er damit drei Tage gemeint hätte, entspräche das einer Wahrscheinlichkeit von 1: 244 Mio. Ein solches Ereignis könnte man etwa alle 670 000 Jahre beobachten. Die Aussage des damaligen Goldman-CFO wäre also nur minimal klüger, selbst wenn sie auf die Tschebyscheff-Ungleichung abzielte. David Viniar hätte sich besser an einen einfachen Grundsatz gehalten: Wer ein nach den Modellen extrem unwahrscheinliches Ereignis beobachtet, sollte zuerst einmal davon ausgehen, dass die Modelle nicht stimmen.

David Viniars absurde Erklärung war damals nicht die einzige dieser Art, allerdings die prominenteste. Auch andere Grossbanken folgten dem Erklärungsmuster, dass die Ereignisse der Finanzkrise völlig unvorhersehbar gewesen seien; im Prinzip hätten die Banken einfach das Pech gehabt, mit extrem unwahrscheinlichen Marktverhältnissen konfrontiert zu werden. Ungenügende Standards bei der Vergabe von Hypotheken erwähnten sie dabei nie.

Aufgrund der beginnenden Finanzkrise und der ungeschickten Versuche mancher Banken, sich von Verantwortung freizusprechen, rückte das Thema der sogenannten «fat tails» (ungefähr «fette Flanken») ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dabei geht es um das Aussehen von Wahrscheinlichkeitsverteilungen, insbesondere um weit vom Mittelwert entfernt liegende Werte. Kritiker warfen den Banken vor, sich bei der Risikoabschätzung auf Normalverteilungen abgestützt zu haben; diese hätten zu tiefe Wahrscheinlichkeiten von hohen Verlusten vorgegaukelt, während in der Realität Verteilungen mit «fat tails» vorherrschten.

Normalverteilungen als Daumenregel

Manche Privatanleger haben darum bis heute den Eindruck, Normalverteilungen hätten bei der Finanzanalyse keinen grossen Nutzen. Das ist aber ein Fehler, denn Normalverteilungen und darauf basierende Überschlagsrechnungen sind ein nützliches und einfach zu handhabendes Werkzeug. Selbst wer nicht besonders mathematikbegabt ist, kann mit auf Normalverteilungen basierenden Rechnungen seine Investment-Risiken abschätzen.

Das ist gerade dann besonders nützlich, wenn die Volatilität ansteigt. Im Moment machen die Märkte Schlagzeilen, weil sich Tagesverluste von 3% häufen und die Nervosität zunimmt. In dieser Situation treffen Investoren leicht falsche Entscheidungen, weil sie sich von den Tagesaktualitäten mitreissen lassen. Es ist hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass Aktien als Reaktion auf höhere Risiken fallen. Sie sinken auf ein Niveau, von dem aus sie höhere Renditen versprechen, um für diese Risiken zu entschädigen.

Es ist wahrscheinlich, dass für langfristige Anleger das Risiko tieferer Kurse durch höhere zu erwartende Renditen gerade ausgeglichen wird, so dass sie keinen Grund zum Kauf oder Verkauf haben. An den grundsätzlichen Eigenschaften der Investments ändert sich im Normalfall nichts. Um diese grundsätzlichen Eigenschaften zu bemessen, sind auf Normalverteilungen basierende Grobabschätzungen ein probates Mittel.

Tagesaktualität ist ein schlechter Ratgeber

Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Die Website von Morningstar stellt langjährige Volatilitäts- und Renditekennzahlen zur Verfügung. Die jährliche Volatilität über 15 Jahre beträgt beim SPY, einem der bekanntesten ETF auf den S&P 500, ungefähr 13,3%. Die Rendite über diesen Zeitraum liegt bei jährlich 8,72%.

Die Volatilität entspricht gerade einer Standardabweichung. Aufgrund der Eigenschaften der Normalverteilung kann ein Investor die Risiken einer Anlage abschätzen: Es besteht eine 1/6-Chance, dass ein Investment über 12 Monate eine Standardabweichung weniger einbringt als die Durchschnittsrendite. Ein Investor weiss daher, dass er mit dem SPY wahrscheinlich in einem von sechs Jahren einen Verlust von 4,58% macht (Erwartungswert minus Standardabweichung: 8,72–13,3).

Falls er lieber mit einer Wahrscheinlichkeit von 10% kalkuliert, muss er die Standardabweichung mit 1,3 multiplizieren. Im Beispiel 13,3×1,3=17,29. Er weiss dann, dass er mit dem SPY durchschnittlich alle 10 Jahre einen Verlust von 8,57% erleidet. Nur wenn ihm dieses Risiko zu hoch erscheint, sollte er verkaufen, nicht weil der Markt am Tag zuvor 4% gefallen ist.

Natürlich können diese Schätzungen nur Annäherungen an die Realität sein. So sind 15 Jahre vielfach ein zu kurzer Zeitraum, um das langjährige Mittel von Standardabweichung und Rendite verlässlich abschätzen zu können. Viele Investoren rechnen daher für die europäischen Aktienmärkte sowie den US-Markt pauschal mit einer Standardabweichung (Volatilität) von 20% und einer Rendite von 5%. Das weicht erheblich von den Zahlen im Beispiel mit dem SPY ab, ist aber einfacher zu rechnen und liegt näher an den extrem langfristigen Durchschnittswerten über 50 Jahre oder mehr.

Insgesamt bekommen Anleger mit auf Normalverteilungen basierenden Überschlagskalkulationen einen guten Anhaltspunkt für die wahrscheinliche Höhe von Verlusten und Gewinnen sowie für deren Häufigkeit. Sie sollten allerdings nicht den Fehler machen, diese Kalkulationen mit der Realität zu verwechseln; in einzelnen Jahren können sich erhebliche Abweichungen ergeben. Wenn sich Investoren dessen bewusst sind, zeigen sie ein so fortgeschrittenes Mathematik- und Marktverständnis, dass sie bereits einen ehemaligen CFO von Goldman Sachs überflügeln.

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