Die EU droht in eine Falle zu laufen

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Dover cliff

Lanchesters Buch handelt von einem Land, das sich mit einer Mauer gegen das Meer und gegen Flüchtlinge abschirmt

Quelle: Getty Images

Was sagt es über die EU, wenn man sie kaum verlassen kann? Und warum war der Beitritt der Ostblockstaaten für den Brexit wichtiger als die Flüchtlingskrise 2015? Ein Gespräch mit dem Autor John Lanchester.

John Lanchester ist abgeschoben worden: Er schreibt jetzt in der Gartenhütte; die Londoner Küche besetzt er nur, wenn er sturmfrei hat. Auf dem Bildschirm taucht er im pink Pullover auf.

Bekannt geworden ist Lanchester mit „Kapital“, einem waschechten Immobilienroman, aus dem gleich zwei Sachbücher zum Thema Geld resultierten. Eines davon trägt den schönen Titel „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt“ und erzählt „Die bizarre Geschichte der Finanzen“.

John Lanchester

John Lanchester wurde 1962 in Hamburg geboren

Quelle: Klett-Cotta

Mittlerweile ist Lanchester thematisch weitergezogen. Sein neuer Roman „Die Mauer“ (Klett-Cotta, 348 S., 24 €) ist eine klassische Dystopie: Der Klimawandel hat sämtliche Strände Englands weggeschwemmt, und auf der Mauer, die eine xenophobe Nation nicht nur vor den Fluten schützt, kämpft eine zwangsverpflichtete Jugend gegen anrennende Migranten.

WELT: Mit düsterer Zukunft kennen die Briten sich aus. Was haben Sie von Orwell und Huxley gelernt?

John Lanchester: Orwell und Huxley werden oft in einem Atemzug genannt, dabei verbindet sie gar nicht so viel. Orwell hat eigentlich über seine Gegenwart geschrieben, über einen Totalitarismus, den er erlebt hatte. Huxley hingegen ist ein spekulativer Autor mit wissenschaftlichem Hintergrund. Mein Buch hat ein bisschen von beidem. Angefangen hat es mit einem Traum von einem Mann auf einer Mauer.

WELT: In Ihrem Roman erfüllt diese Mauer zwei Funktionen. Erstens schützt sie vor dem gestiegenen Meeresspiegel – das ist der Huxley-Teil Ihres Romans. Die Mauer soll aber auch alle Migration unterbinden. Ist das der Orwell-Teil, beeinflusst von der Flüchtlingskrise 2015 und dem Brexit-Votum ein Jahr später?

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Lanchester: Ich habe den Roman 2016 begonnen – es wäre wunderlich, wenn mich das nicht beeinflusst hätte. Aber die Probleme sind doch sehr unterschiedlicher Art. Ein Klimawandel ist global und wäre unumkehrbar, wohingegen der Brexit ein selbst verschuldetes, lokales Problem ist, das sich zudem rückgängig machen lässt. Die überwältigende Mehrheit der jungen Leute im Land ist ja gegen einen EU-Austritt. Es ist also nicht sehr schwer vorherzusehen, wie das Ganze in zehn oder zwanzig Jahren aussieht.

WELT: Nach dem Austritt kommt der Wiedereintritt?

Lanchester: Warum sollte sich jemand, der heute zwanzig Jahre alt ist, sagen: „So wie mein Großvater damals anno 2016 abgestimmt hat, das gilt für alle Zeit“? Schauen Sie, Menschen, die eine Rente beziehen und ein Haus oder eine Wohnung besitzen, haben mit überwältigender Mehrheit für „Leave“ gestimmt. Jüngere Leute, die nominell vielleicht ein höheres Einkommen haben, es aber großteils für ihre Londoner Miete aufwenden müssen, hingegen nicht. Soziologie ist hier hilfreicher als Wirtschaftswissenschaft.

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WELT: Neulich habe ich mit Ihrem Kollegen Robert Harris gesprochen, der befürchtet, Großbritannien könnte nach dem Brexit ein zweites Singapur werden, eine Niedrigsteuerinsel im Norden. Sie haben zwei sehr kritische Sachbücher über den Finanzmarktkapitalismus geschrieben. Freuen Sie sich schon auf Ihr neues Leben?

Lanchester: Ich habe mit meiner Frau schon Scherze gemacht, dass Singapur ein guter Ruhesitz wäre. Das Gesundheitssystem und die Küche sind prima, und alles, womit die Jugend nervt, ist verboten: Krach und Kaugummi in der Öffentlichkeit. Aber Spaß beiseite: Die Tories träumen davon, im Prinzip wollen sie den Wohlfahrtsstaat loswerden. In Singapur ist es eine Schande, auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. Aber Singapur ist auch ein ethnisch homogener Stadtstaat mit wenigen Millionen Einwohnern. Die Chance, dass Großbritannien eine Variante davon werden könnte, liegt bei null. Was wir hingegen kriegen könnten, ist den heiligen deregulierten Finanzmarktkapitalismus – ein bisschen wie jetzt, nur noch mehr davon. Wer in London für den Brexit ist, ist das, weil er gegen die Regulierung des Finanzmarkts ist. Zynisch gesagt sind diese Leute für den Brexit, weil sie den Regulierungsprozess in London schon gekapert haben, den in Brüssel aber nicht.

WELT: Hätten die Briten auch ohne die Flüchtlingskrise für den Brexit gestimmt?

Lanchester: Vielleicht. Vor allem aber glaube ich, dass es ohne den EU-Beitritt der ehemaligen Ostblockländer keinen Brexit gegeben hätte. Das war folgenreicher als 2015.

WELT: Weil damals so viele Arbeitskräfte aus Osteruropa auf den britischen Markt drängten?

Lanchester: Dem EU-Projekt wohnt eine gewisse Scheinheiligkeit inne. Gerade hören wir viel über die sakrosankte Natur der Freizügigkeit in der EU. Diese Freizügigkeit war aber nicht sakrosankt, als die Polen, Tschechen und Ungarn der EU beitraten und jedes EU-Land mit Ausnahme von Großbritannien, Irland und Schweden seinen Arbeitsmarkt erst mal für die Neumitglieder sperrte. Arbeitskräfte aus Osteuropa sind auch deshalb in so hoher Zahl nach Großbritannien gekommen, weil sie nirgendwo anders hinkonnten. Das war keine Sternstunde der EU und ist einer der Gründe für den Brexit. Nicht der wichtigste vielleicht, aber einer der zehn wichtigsten. Die Flüchtlingskrise 2015 lieferte dann die Bilder zu einer Geschichte, die schon länger im Umlauf war.

WELT: Ist die EU jetzt zu hart gegen Großbritannien?

Lanchester: Ich glaube, die EU droht in eine Falle zu laufen. Wenn sich der Brexit kurz- oder mittelfristig als Katastrophe erweist, wenn es keinen Deal gibt, uns die Medikamente ausgehen, Lkw-Fahrer drei Wochen lang vor Dover stehen und die Wirtschaft massiv leidet, wird zweierlei passieren. Erstens werden sich viele Unternehmen in Europa, die ihre Hühnchen oder Autos nicht mehr verkaufen können, fragen, inwieweit ihnen nützt, was Brüssel nützt. Und zweitens ist die Botschaft, die ein desaströser Brexit an die Bürger Europas aussendet, zweifelhaft. Denn wir reden hier doch über ein Problem, das ein einziger Satz aus der Welt schaffen könnte. Man müsste das Austrittsabkommen nur um einen Hinweis zum Backstop ergänzen: „Diese Vereinbarung wir nach fünf Jahren in gegenseitigem Einvernehmen überprüft.“ Das scheint mir nicht sonderlich schwer, zumal wir hier doch ohnehin von einer Interimslösung sprechen und nicht von dem Vertrag, der unsere künftigen Beziehungen regelt. Wenn es aber so ist, dass man die EU gar nicht verlassen kann, obwohl man sich auf demokratische Weise dafür entscheiden hat, könnte der Eindruck entstehen, dass der EU die Zustimmung ihrer Bürger gar nicht wichtig ist. Das ist die Gefahr – jenseits der Schadenfreude, die ich vielleicht auch empfände, wenn ich nicht hier leben würde.

WELT: Neben der Klima- und Migrationskrise sieht Ihr Roman noch eine dritte Krise kommen: einen schweren Generationskonflikt. Worum geht es dabei?

Lanchester: Der Roman geht davon aus, dass sich eine Klimakatastrophe verhältnismäßig schnell, also innerhalb einer Generation manifestiert. Innerhalb einer Generation wäre die Welt dann eine andere, und mir scheint, das würde den Generationskonflikt, den wir gerade erleben, erheblich intensivieren. Noch können wir über die faire Verteilung unserer Reichtümer rechten – nach einer solche Katastrophe ginge das nicht mehr, und der Protagonist meines Romans gibt seinen Eltern ganz persönlich die Schuld daran, dass die Erde ruiniert ist. Der Leser mag das nicht ganz fair finden und anders sehen, aber dieser junge Mann gibt ehrlich Auskunft über seine Ansichten.

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Mit ihrer Rede bei der UN-Klimakonferenz in Polen hatte die schwedische Schülerin Greta Thunberg für Aufsehen gesorgt. Nun hat die junge Umweltaktivistin beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos gesprochen und einmal mehr drastische Worte gefunden.

Quelle: WELT

WELT: Ist dieser Konflikt, den Sie im Roman in die Zukunft verlängern, gerade in Gestalt von Greta Thunberg, der umstrittenen schwedischen Klimaaktivistin, die zuletzt nach Davos gereist ist, sichtbar geworden?

Lanchester: Die jungen Leute begreifen den Klimawandel als Notfall – zu Recht, wie ich glaube. Und es ist interessant und sehr effektiv, wie direkt Greta Thunberg das personalisiert. Wir werden noch mehr davon erleben. Schauen Sie, wir sprechen viel über Demokratiedefizite, etwa im Zusammenhang mit der EU. Wir haben aber auch ein enormes Demokratiedefizit in Klimafragen. Die Menschen, die in der Welt leben werden, die wir jetzt gestalten, verfügen nicht über die nötige politische Macht.

WELT: Weil sie so jung sind oder weil sie so wenige sind?

Lanchester: Weil sie so jung und so wenige sind. Und weil junge Menschen dazu neigen, nicht zu wählen. Politik wird deshalb mehr und mehr für und von älteren Menschen gemacht. Und das Ausmaß von Entscheidungen, deren Folgen erst in dreißig oder vierzig Jahren sichtbar werden, schlägt sich in unserem politischen System nicht ausreichend nieder.

WELT: Wie kann man das ändern?

Lanchester: Die Frage ist, glaube ich, inwieweit wir die Verantwortung unseren Politikern zuschieben oder sie selbst übernehmen wollen – und für Parteien stimmen, deren Zeithorizont weiter gesteckt ist. Aber es gibt auch Grund zur Hoffnung. Wenn die Klimakonferenz in Kattowitz erklärt, dass eine um nur anderthalb und nicht um drei oder vier Grad erwärmte Welt möglich ist, ist das ein Grund. Ein weiterer ist, dass die Jugend den Klimawandel als Notfall begreift. Und seltsamerweise ist auch China einer, denn China hat gar keine andere Wahl, als den Klimawandel verzweifelt ernst zu nehmen. Anderthalb Milliarden Menschen sind auf das Schmelzwasser aus dem Himalaja angewiesen. Und dieses Problem wird in China nicht ideologisch, sondern technokratisch betrachtet.

WELT: Dann pauken uns die Jungen und die Kommunisten raus?

Lanchester: Sie werden uns nicht rauspauken. Aber sie werden das Problem mit der Dringlichkeit behandeln, die es verdient.

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