Russland wird schwächer, fühlt sich aber immer stärker. Auf dieses Paradox muss der Westen bessere Antw orten finden

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Das vergangene Jahr hat Russland Rückschläge auf mehreren Ebenen eingebracht. Sie verweisen auf alte Widersprüche der Moskauer Macht. Aber der Kreml setzt weiter auf eine wachsende weltpolitische Rolle und testet dabei die Entschlossenheit des Westens.

Präsident Putin steht seit bald zwei Jahrzehnten an der Spitze Russlands und sieht sich trotz der wirtschaftlichen Stagnation der letzten Jahre als Staatsführer, der sein Land entscheidend gestärkt hat. (Bild: Sergei Karpukhin / Reuters)

Präsident Putin steht seit bald zwei Jahrzehnten an der Spitze Russlands und sieht sich trotz der wirtschaftlichen Stagnation der letzten Jahre als Staatsführer, der sein Land entscheidend gestärkt hat. (Bild: Sergei Karpukhin / Reuters)

Russland wird schwächer, fühlt sich aber immer stärker. Mit diesem Paradox muss sich der Westen mehr denn je herumschlagen, und im neuen Jahr gilt es, bessere Antworten darauf zu finden als bisher. Dass der Kreml auf der Bühne der Weltpolitik vor Selbstbewusstsein strotzt, lässt sich nicht nur an seinen Militäraktionen in der Ukraine und Syrien ablesen. Moskau schickt inzwischen auch Militärberater in entlegene Länder wie die Zentralafrikanische Republik, mischt im libyschen Bürgerkrieg mit und hat kürzlich nuklear bestückbare Langstreckenbomber um die halbe Welt nach Venezuela entsandt, um den Amerikanern in deren Hinterhof einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben.

Wirtschaftlich abgehängt

Gleichzeitig will das Weltmachtgewand diesem euro-asiatischen Koloss immer weniger passen. Russland ist ökonomisch höchstens eine Mittelmacht; in der Weltbank-Rangliste der stärksten Volkswirtschaften taucht es irgendwo zwischen Kanada und Südkorea auf. Es blickt auf ein verlorenes Jahrzehnt zurück, in dem es wirtschaftlich kaum vom Fleck kam. Auch das vergangene Jahr war von Stagnation, wenn nicht gar Niedergang geprägt. Die russische Wirtschaft hat zwar nominell zu einem schwachen Wachstum zurückgefunden, aber die geschätzte Rate von 1,6 Prozent ist für ein ambitiöses Land wie Russland dennoch ein Zeichen der Schwäche: Die Schwellenländer wachsen im Durchschnitt fast dreimal so schnell; Russlands Gewicht in der Weltwirtschaft schwindet.

Nicht nur wirtschaftlich läuft für Moskau vieles enttäuschend. Wenn die Kreml-Elite am Wochenende auf das orthodoxe Neujahr anstösst, kann sie auf ein Jahr bemerkenswerter Pannen zurückblicken. Ganz nach Drehbuch verlief zwar im März die Wiederwahl von Präsident Putin, der sich in einem manipulierten Kandidatenfeld problemlos durchsetzte. Die Grenzen der politischen Lenkbarkeit zeigten sich jedoch bereits im Herbst, als in mehreren Regionen überraschend die «falschen» Gouverneure gewählt wurden, unter ihnen auch solche, deren einzige Attraktivität darin bestand, dass sie nicht der Regimepartei Einiges Russland angehörten. Putins Popularitätsquote ist in kurzer Zeit von gut 80 auf 66 Prozent gesunken. In ausländischen Ohren mag diese Zahl nach einem immer noch komfortablen Rückhalt klingen. Aber sie zeigt an, dass Putin seinen mit der Krim-Annexion im Jahr 2014 erreichten Popularitätsschub nun vollständig eingebüsst hat. Hauptgrund dafür ist, dass der Präsident für die überfallartige Erhöhung des Rentenalters im vergangenen Jahr mitverantwortlich gemacht wird. Sie hat eine Empörung ausgelöst, die selbst der grösste Propaganda-Apparat nicht verhindern kann.

Schuss ins eigene Bein

Einen Rückschlag erlitten 2018 auch die Geheimdienste, Putins wichtigstes Machtinstrument. Der Aufklärungsdienst GRU unterschätzte völlig die Reaktionen, die der Giftanschlag auf den ehemaligen Spion Sergei Skripal in England auslösen würde. Nicht nur musste er zuschauen, wie ein Teil seines Agentennetzes aufflog. Russland sah sich auch als Urheber eines zynischen Chemiewaffeneinsatzes entlarvt und wurde zur Zielscheibe neuer ausländischer Sanktionen. Angesichts des Schadens, den sich Moskau im Fall Skripal zugefügt hat, fühlt man sich an das Bonmot von Napoleons Polizeichef Fouché erinnert: «Das ist schlimmer als ein Verbrechen, nämlich ein Fehler.»

Für Pannen sorgte auch eine weitere Stütze des russischen Regimes, die Rüstungsindustrie. Als Beispiel mag die «Admiral Kusnezow» dienen, der einzige Flugzeugträger des Landes. Dass das Schiff wegen seines unzuverlässigen Antriebs zuletzt nur noch in Begleitung eines Schleppboots zum Einsatz kam, hatte schon früher spöttische Kommentare ausgelöst. Nun kam im Herbst auch noch die Hiobsbotschaft hinzu, dass während eines Werftaufenthalts ein Kran auf den Träger gestürzt sei und ein Loch in dessen Flugdeck gerissen habe.

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Einen Schiffbruch anderer Art erlitt Russland in der Kultur- und Religionspolitik, als der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel unlängst die Schaffung einer selbständigen orthodoxen Kirche der Ukraine guthiess. Das Moskauer Patriarchat, das die Ukraine als kanonisches Territorium für sich beansprucht, hatte diesen Schritt vergeblich bekämpft. Es handelt sich um mehr als eine blosse Niederlage in einem Kirchenstreit. Es bedeutet auch in aussenpolitischer Hinsicht eine Schlappe, da die Orthodoxie dem Kreml traditionell als Instrument der Grossmachtpolitik dient. Die von russischen Nationalisten vertretene Ideologie einer «russischen Welt», die alle ostslawischen Völker umfasst und deren Werte in grosse Teile der ehemaligen Sowjetunion ausstrahlen, hat einen Dämpfer erhalten.

Fehlende Basis für eine Grossmachtrolle

Die Beispiele illustrieren, dass Russland in verschiedenen Dimensionen von Macht klare Defizite aufweist. Weder wirtschaftlich noch technologisch noch kulturell im Sinne einer übernationalen «soft power» verfügt es über die Grundlagen, um eine Grossmachtrolle auszuüben. Der Anspruch des Kremls, von gleich zu gleich mit den Grossen der Welt zu sprechen, stützt sich fast ausschliesslich auf die militärische Macht. Doch selbst diese reicht bei weitem nicht an jene der Nato heran, und auch gegenüber China fällt Russland im konventionellen Waffenbereich zurück.

Wer annimmt, dass Moskau daher vernünftigerweise auf kostspielige Grossmachtambitionen verzichten und sich für Kooperation statt Konfrontation mit dem Westen entscheiden müsste, sieht sich getäuscht. Angesichts der wirtschaftlichen Stagnation ist der Stolz auf Russlands Militärmacht zur wichtigsten Quelle der Legitimität für das Putin-Regime geworden. Die «Heimholung» der Krim, aber auch das Ausmanövrieren der USA im Syrien-Konflikt und die Modernisierung der Streitkräfte haben patriotische Hochgefühle erzeugt. Aus dieser Erfahrung heraus besitzt Putin einen Anreiz, zur Absicherung seiner Macht neue aussenpolitische Abenteuer zu wagen.

Welches Ziel der Kreml als Nächstes ins Auge fasst, bleibt dabei ungewiss. Unter Druck sieht sich derzeit Weissrussland, dessen Präsident dem Nachbarn im Osten offen vorwirft, die Einverleibung seines Landes anzustreben. Zumindest klingt es ominös, wenn Moskau in letzter Zeit von Minsk eine stärkere «Integration» in gemeinsame Strukturen fordert. Grund zur Sorge hat auch die Ukraine. Russland liefert den Separatistengebieten in der Donbass-Region weiterhin militärische Unterstützung und hält so den dortigen Konflikt am Köcheln. Der ukrainische Armeechef sprach kürzlich von der grössten russischen Truppenkonzentration an den Grenzen seines Landes seit Jahren. Kiew mag das Ausmass der unmittelbaren Bedrohung zuweilen übertreiben, aber seine Warnungen erfolgen vor einem sehr realen Hintergrund. Warum Russland in den letzten Monaten beispielsweise 250 Kampfpanzer in eine Basis an der ukrainischen Grenze verlegte, wie Satellitenaufnahmen zeigen, hat es nie erklärt.

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Es braucht rote Linien und notfalls Strafen

Vor diesem Hintergrund wirkt es unverantwortlich, mit welcher Milde der Westen die russische Aggression in den Gewässern vor der annektierten Halbinsel Krim hingenommen hat. Ende November versperrte Russlands Küstenwache ukrainischen Marinebooten die vertraglich zugesicherte Durchfahrt ins Asowsche Meer und beschoss sie anschliessend in internationalen Gewässern – ein klarer Bruch des Völkerrechts. Mehr als verbale Kritik musste Moskau jedoch nicht erdulden. Die EU entschied sich gegen verschärfte Sanktionen, der amerikanische Präsident Trump begnügte sich damit, ein Gespräch mit seinem russischen Amtskollegen abzusagen.

Dabei gäbe es durchaus geeignete Schritte, um Russland die Kosten seines aggressiven Verhaltens vor Augen zu führen. Die Europäer und Amerikaner könnten Handelsschiffen, die aus russischen Häfen am Asowschen Meer auslaufen, die Landung verweigern. Es wäre ein Signal, dass der Westen die von Russland betriebene Abschnürung der ukrainischen Asow-Häfen nicht akzeptiert. Auch eine Stärkung der Abwehrfähigkeit des ukrainischen Militärs drängt sich auf. Westliche Unentschlossenheit oder gar Gleichgültigkeit hingegen wird in Moskau als Zeichen von Feigheit eingestuft. Mit Angriffen wie jenem in der Meerenge von Kertsch testet der Kreml nicht zuletzt, wie weit er gehen kann, bis er auf Widerstand stösst. Geduldiges Zureden hilft in einer solchen Lage nichts, es braucht dicke rote Linien und notfalls Strafmassnahmen. Russland ist zwar eine Grossmacht auf tönernen Füssen, aber eine, die Schwächen des Gegners kaltblütig auszunützen versteht.

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