„Wir sind mitten in einer Revolution“

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Ingrid Levavasseur ist das Gesicht der Gelbwesten-Bewegung. Hier spricht die Krankenpflegerin über falsche Versprechen des Präsidenten und die Umsturz-Mentalität der Franzosen.

Guillaume Quiniuo

Ingrid Levavasseur

Zur Person

  • Ingrid Levavasseur, 31, Krankenpflegerin. Binnen kurzer Zeit ist sie zu einer Wortführerin der Gelbwesten geworden. In Talkshows und den sozialen Netzwerken vertritt sie vehement deren Positionen, inzwischen ist die zweifache Mutter für eine neue Liste für die Europawahl im Mai im Gespräch. Bisher engagiert sich Levavasseur neben ihrem Job für die nationale Bewegung.

SPIEGEL ONLINE: Präsident Emmanuel Macron schlägt eine große nationale Debatte über die Themen der Gelbwesten vor. Nach den wochenlangen Protesten spricht er vom „zweiten Akt“ seiner Regierungszeit und deutet damit eine soziale Wende an. Hat die Gelbwesten-Bewegung die französische Politik bereits verändert?

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Levavasseur: Für mich hat Macron seine Richtung nicht verändert. Seine Ziele sind die gleichen geblieben. Egal, was wir fordern, wird er immer an seinen ursprünglichen Ideen festhalten. Wir sollten uns da keinen Illusionen hingeben.

SPIEGEL ONLINE: Einer seiner Minister sieht in der großen öffentlichen Debatte, die heute beginnt und bis März andauern soll, eine Chance, das ganze Land zu verändern. Wie stehen die Chancen dafür aus Ihrer Sicht?

Levavasseur: Mal ehrlich, Macron ist an diesem Punkt sehr unaufrichtig. Er ist gegenüber unserer Bewegung arrogant und missachtet sie. Die große Debatte, von der er jetzt redet, ist in Wahrheit keine Debatte. Stattdessen wird man eine Rede nach der anderen halten. Die erste Debatte mit Macron findet morgen in meinem Department Eure in der Normandie statt. Eingeladen sind 700 Bürgermeister aus unserer Gegend, die meisten aus kleinen Gemeinden. Aber wie wollen 701 Menschen diskutieren?

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SPIEGEL ONLINE: In vielen Rathäusern sind die Bürger heute aufgerufen, ihre Sorgen und Forderungen in Beschwerdebücher einzutragen. Das geht auf eine alte Sitte während der französischen Revolution zurück. Auch keine gute Idee?

Levavasseur: Es gibt rund 36.000 Gemeinden in Frankreich, erst in 5000 von ihnen liegen die Beschwerdebücher aus. Doch schon jetzt beginnt die Debatte. Wie will man innerhalb von wenigen Tagen und Wochen die große Zahl der Beschwerden einholen und ernsthaft auswerten? Das ist schlicht unmöglich.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind Teil einer nationalen Koordination der Gelbwesten, die versucht, die Forderungen der Bewegung zu bündeln. Gelingt das?

Levavasseur: Wir stehen damit ganz am Anfang. Eine neue Internetplattform wird alle Beschwerden sammeln, und wir werden versuchen, sie zu klassifizieren: zum Beispiel unter die Domänen Arbeitsrecht oder Soziales. Später können wir daraus Vorschläge und Forderungen ableiten.

SPIEGEL ONLINE: Wie lauten Ihre wichtigsten Forderungen?

Levavasseur: Ich bin für Steuersenkungen für Grundnahrungsmittel. Zum Beispiel sollte die Mehrwertsteuer für Milch auf ein Minimum reduziert werden. Bei der Ernährung geht es wirklich um Grundbedürfnisse.

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SPIEGEL ONLINE: Sie haben gerade einen Gelbwesten-Aufruf für die Erhöhung der Gehälter in den Pflegeberufen unterschrieben. Warum?

Levavasseur: Wenn der Präsident sich jetzt in der Lage sieht, die Gehälter der Polizisten zu erhöhen, müsste er auch bereit sein, denjenigen, die anderen im Alltag helfen, mehr zu zahlen. Ich bin Krankenpflegerin. Unsere Berufe sind undankbar, schwer, mit wenigen Aufstiegschancen. Wir sind ständig mit den Leiden der Menschen konfrontiert – und werden dafür sehr schlecht bezahlt.

SPIEGEL ONLINE: Welche Berufe sind für die Gelbwesten-Bewegung repräsentativ?

Levavasseur: Bei uns sind viele Dienstleister, Bäcker, Kassierer aus den Supermärkten, Rathausangestellte. Aber auch Arbeiter, Mechaniker.

SPIEGEL ONLINE: Sind viele staatliche Angestellte dabei?

Levavasseur: Klar, ihre Gehälter sind seit acht Jahren praktisch eingefroren. Zwar gibt es gelegentlich Zulagen, etwa im Wochenend- oder Nachtdienst. Aber die Zulagen werden nicht auf die Rente angerechnet. Mit der Folge, dass viele von uns ihr Leben lang hart arbeiten werden, um am Ende mit einer Mindestrente dazustehen.

SPIEGEL ONLINE: Der Pariser Ökonom Elie Cohen spricht von ihrer Bewegung als „Revolution der Mittelschicht“. Sehen Sie sich als Teil einer Revolution?

Levavasseur: Natürlich sind wir mitten in einer Revolution! Wir wollen uns nicht mehr verstecken. Wir sind auf dem Weg, Dinge in diesem Land zu verändern. Es wird ein Vorher und ein Nachher der Gelbwesten geben. Nichts wird wie früher sein.

SPIEGEL ONLINE: Sprechen Sie da nicht nur für sich selbst?

Levavasseur: Nein. Selbst wenn wir auf der Straße gar nicht so viele sind, stoßen wir auf große Unterstützung in der Bevölkerung. Die Franzosen sind dafür bekannt, viel zu schimpfen, sich dann mit wenig zu begnügen, um nach kurzer Zeit erneut zu schimpfen. Genau da sind wir heute: Die Franzosen haben geschimpft, ein bisschen bekommen, und jetzt schimpfen sie wieder. Zu Recht, denn in Wirklichkeit haben wir noch nichts erreicht.

SPIEGEL ONLINE: Wo führt das hin?

Levavasseur: Ich weiß es nicht. Wer soll uns helfen? Sicher nicht die Gewerkschaften. Wir müssen uns jetzt wirklich anstrengen, um Kraft unserer eigenen Vorschläge voran zu kommen.

SPIEGEL ONLINE: Wie können sich die Gelbwesten in Zukunft am besten organisieren?

Levavasseur: Erst einmal müssen wir uns einig sein. Vielleicht werden wir dann eine Partei gründen, die viel Zulauf bekommt.

SPIEGEL ONLINE: Wie Macron? Er war der letzte, der eine neue Partei gründete.

Levavasseur: Ja, warum nicht so ähnlich?! Ich würde trotzdem immer alles anders machen als er.

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