„Das ist voll peinlich, wenn du das postest“
© Aline Zalko
Lotta
ist 13 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt im wöchentlichen Wechsel über sie und seine anderen drei Töchter im Alter von 19, 11 und 5 Jahren.
„Warte, ich muss das erst fotografieren!“, sagt Lotta eigentlich immer, und dann macht sie ein Foto. Sie macht ein Foto von einem schön gedeckten Tisch. Sie macht ein Foto von etwas, das sie geschenkt bekommen hat. Sie macht ein Foto von ihrem Zimmer, wenn sie es aufgeräumt hat. Sie macht ein Foto von dem Essen auf dem Teller, bevor sie es isst. Wenn ich wissen will, was Lotta so in den letzten paar Stunden gemacht hat, lohnt es sich nicht, sie zu fragen. Ergiebiger ist es, einfach auf ihrem Handy durch die Fotos zu scrollen. Etwas, wovon es kein Foto gibt, hat in ihrem Leben nicht stattgefunden.
Natürlich macht Lotta besonders viele Fotos von sich. Lotta macht Fotos von sich mit ihren Freundinnen, sie macht Fotos von sich in einem neuen Look. Sie macht Fotos von sich kurz nach dem Aufstehen. In diesem Sinne wächst meine Tochter komplett anders auf als ich. Kinder heute haben nicht nur ein fotografisches Gedächtnis in Form ihres Smartphones, sie haben auch ein fotografisches Bewusstsein. Lotta weiß zu jeder Zeit, wie sie gerade auf einem Foto aussehen würde. Wenn irgendwer in ihrer Nähe ein Smartphone reckt, kann Lotta in einem Sekundenbruchteil einen fotogerechten Gesichtsausdruck aufsetzen. Sie ist in dieser Hinsicht unschlagbar. Ich könnte sie nachts wecken, und sie würde mir mit ihrem Fotogesicht entgegenblinzeln, bevor sie bei Bewusstsein wäre. Lottas Fotogesicht hat ein leicht gerecktes Kinn, leicht angehobene Brauen und ein Lächeln mit leicht geöffneten Lippen.
Menschen wie ich wuchsen ohne Fotogesicht auf. Als es noch keine digitale Massenfotografie gab, war ein Foto etwas, das zu besonderen Anlässen gemacht wurde. Und wenn man ein Passbild brauchte, ging man zum Fotografen, und der sagte einem, wie man zu gucken hat. Kopf leicht schief, Kinn etwas heben, in etwa so. Die meiste Zeit wusste man nicht, wie man aussah. Und wenn man so aussah wie ich, war das auch ganz gut so.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 53/2018. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
Ich habe mal die Theorie gelesen, die Bewusstwerdung des Menschen habe damit zu tun, dass er irgendwann in den Spiegel blicken und sich selbst als Individuum erkennen konnte. In diesem Sinne bin ich viel näher am Steinzeitmenschen als meine Tochter. Lotta findet das nicht schlimm. Außer wenn ich versuche, mich aus meiner Rückständigkeit zu befreien, und auch mal Selfies von mir mache. „Papa, du machst einfach bescheuerte Selfies“, sagt Lotta dann. „Mach besser kein Selfie, das ist voll peinlich, wenn du das postest!“ Laut Lotta sehe ich auf meinen Selfies aus wie ein Pinguin. „Pass doch mal auf deine Nase auf“, sagt Lotta. Meine Nase wirke auf meinen Selfies viel zu dick. Und dann neige ich offenbar dazu, in meine Nasenlöcher hineinzufotografieren, was die Sache nicht besser macht. Laut Lotta sollte ich mich eher leicht schräg von oben fotografieren und dabei natürlich lächeln. „UND NICHT WIE EIN ERSCHROCKENER PINGUIN!!“ Von Lottas Warte aus gehören Leute wie ich zu einer verlorenen Generation. Zu jenen, die es nicht verstehen, mit den digitalen Medien adäquat umzugehen. Man wird meine Generation erkennen an den wirklich furchtbaren Selfies, die sie ins Netz gestellt hat. Unsere Enkelkinder werden sich dafür schämen. Glück haben einzig und allein Menschen wie ich, die Töchter haben, die ihnen raten, rechtzeitig aus dem Bild zu gehen.
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