Bäcker Ratjen macht den Ofen aus

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Nicht jedermanns Sache: Nachts geht es für den Bäcker mit der Arbeit los. (imago / Inga Kjer)

2018 hat in Kiel die Familien-Bäckerei Ratjen dichtgemacht. Für immer – nach 99 Jahren. Der Betrieb lief, doch Michael Ratjen fand keinen Nachfolger. Und ist damit einer von vielen. Mit ihm geht ein Mann, ein Handwerk und ein Treffpunkt im Kiez.

An einem kalten Samstagvormittag rückt plötzlich die Kieler Feuerwehr in der Iltistraße an. Vier Fahrzeuge der nah gelegenen Ostwache parken direkt gegenüber der alten Bäckerei. Heraus kommen 15 Feuerwehrleute in voller Montur und laufen geradewegs auf die Backstube zu. Es qualmt nicht, raucht nicht, brennt nicht. Die Feuerwehr ist auf der Suche nach jenem Mann, der ihnen viele Jahre lang die Brötchen gebacken hat. Sie wollen „Danke“ sagen und „Tschüss“.

Überraschungsbesuch: Die Feuerwehr sagt Tschüss (Johannes Kulms )

Eine knappe Woche zuvor steht der Bäckermeister allein in seiner Backstube. Es ist kurz nach halb drei mitten in der Nacht. Michael Ratjen ist auf der Zielgeraden. Am 31. März wird er seine Bäckerei schließen. Und damit eine 99 Jahre lange Familientradition beenden. Gerade hat er 150 Brötchen vorbereitet, nun geht es zum nächsten Backwerk. Seine Finger versinken im Teig.

„Ich freue mich drauf, was daraus entsteht. Oder wenn die Brötchen aus dem Ofen kommen. Und du hast mal wieder alles richtig abgewogen und nichts vergessen.“

Mit 14 Jahren in die Bäckerlehre

Michael Ratjen hat etwas Bärenhaftes. Er ist groß und hat breite Schultern. Er trägt eine hellblaue Bäckerhose, einen weißen Pulli und eine gelbe Schürze, die er um die Hüften gebunden hat. Er sieht konzentriert aus. Aber auch sehr müde, erschöpft. Hat irgendwie diesen Tunnelblick. Auch an diesem Morgen ist er wieder um 1:15 Uhr aufgestanden. Eine knappe halbe Stunde später hat er die Backstube betreten. Der riesige silberne Ofen – er ist fast so groß wie ein VW-Bus – lief da bereits.

30 Jahre Chef: Michael Ratjen in seiner Backstube (Johannes Kulms )

Als der Ofen 1993 angeliefert wurde, musste dafür extra ein Loch in die Hauswand gerissen werden. Nur so passte das Monstrum von der Straße in den Backraum. Das war kein Problem, denn der ganze Altbau mit insgesamt 14 Wohnungen gehört den Ratjens, seit drei Generationen. In einer der Wohnungen – im Erdgeschoss direkt gegenüber von der Backstube – ist Michael Ratjen aufgewachsen. Die früheren Wohnräume lagen direkt hinter dem heutigen Verkaufsraum der Bäckerei. Für ihn stand bereits früh fest: Auch ich werde Bäcker!

„Ich bin mit zehn Jahren angefangen und habe meinem Vater hier geholfen, freiwillig. Was nachher so ein bisschen freiwilliger Zwang war: Geh mal nach hinten und helfe deinem Vater noch ein bisschen, dann können wir pünktlich Mittag essen.“

Mit 14 machte Michael Ratjen eine Bäckerlehre. Als 1982 der Altgeselle aufhörte, kehrte er zurück in die Bäckerei seines Vaters und übernahm 1987 die Geschäfte.

Auch ein Erbstück: die Mehlwaage in der Backstube (Johannes Kulms )

„Meistens bringt das Spaß, sonst macht man das nicht 40 Jahre.“

Mein Eindruck ist: Michael Ratjen liebt seinen Beruf im Multi-Kulti-Viertel auf dem Kieler Ostufer. Und trotzdem: In wenigen Tagen macht er den Ofen aus, für immer.

„Eigentlich war das sehr kurzfristig. Also, das ist letztes Jahr gewesen im Urlaub. Wo ich gemerkt habe, dass ich keine richtige Motivation mehr habe, das noch weiterzumachen. Wir wollten eigentlich 100 Jahre vollmachen, jetzt sind das aber gute 99 geworden. Auf der einen Seite bin ich erleichtert. Und auf der anderen Seite denke ich: schade eigentlich.“

Der letzte alteingesessene Bäcker im Kiez

„Schade eigentlich“, denke auch ich mir. Denn tatsächlich führt Michael Ratjen den letzten alteingesessenen Bäckerbetrieb in Gaarden. Einem echten Arbeiterviertel mit hohem Migrantenanteil, das gerade von der richtigen Mischung lebt. Das weiß auch Michael Ratjen.

Zwei Jahre lang habe auch ich in Gaarden gewohnt und bei Ratjens meine Brötchen gekauft. Anfangs fand ich sie ein bisschen trocken. Doch dann wurde ich ein großer Fan von Ratjens Franzbrötchen, den wunderbaren dänischen Brötchen und dem Plunder und den Schrippen.

Nur: Wer wird sie in Zukunft backen, wenn es in Deutschland nur noch 12.000 Familienbetriebe wie den der Ratjens gibt? Vor 60 Jahren gab es allein in der alten BRD noch fast vier Mal so viel. Die Zahl der Brötchen aber, die aus Backfabriken kommt, wird immer größer. Das Billig-Brötchen vom Aufback-Bäcker, vom Discounter oder von der nächsten Tankstelle bedeutet für viele Familienbetriebe das Aus.

Der letzte echte Kiezbäcker: Ratjens Laden in der Kieler Iltisstraße (Johannes Kulms )

Doch: Die Billigkonkurrenz ist gar nicht Schuld am Aus von Bäcker Ratjen. Der sagt sogar: Wirtschaftlich stehen wir auch heute noch gut da. Ein Grund, warum er aufhört, ist: Er findet, wie so viele Familienbetriebe, keinen Nachfolger. Zusammen mit seiner Frau Angelika hat Michael zwei Kinder: Nils, 22 Jahre alt, und Jan, 14 Jahre alt. Doch die wollen etwas anderes machen.

„Der Große hat nie Interesse gehabt, das war klar. Der Lütte, der hat mal eine Phase gehabt, wo er jetzt Interesse hat, ich sag aber, ich mache nicht zehn Jahre hier noch weiter, bis du so weit bist. Wir versuchen auch, dass die Jungs das Leben ein bisschen genießen.“

Zum Glück hatte Bäcker Ratjen die ganzen letzten Jahrzehnte Kai. Kai Nitschmann ist 53 und hat seine Bäckerlehre begonnen, als der Betrieb noch von Michaels Vater geführt wurde. Seit 1987 ist er durchgängig dabei. Er und Michael Ratjen sind ein eingespieltes Team. Und auch Kai weiß, was man mitbringen muss, um ein guter Bäcker zu sein.

„Also, auf jeden Fall muss man zuverlässig sein, pünktlich. Man muss das körperlich schaffen mit dem Aufstehen. Sechs Tage. Wenn wir Urlaubszeit hatten die letzten Jahre, dann haben wir zum Teil durchgearbeitet, der Meister und ich.“

Halb so viele Lehrlinge wie vor zehn Jahren

Der Geselle weiß auch, dass das nicht jedermanns Sache ist. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Auszubildenden praktisch halbiert. Der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks führt das darauf zurück, dass die Bildungspolitiker zu stark Abitur und Studium bewerben, anstatt die duale Ausbildung. Kai glaubt: Die besonderen Arbeitszeiten schrecken viele ab. Das passt nicht zu den Vorstellungen, die die Jugendlichen heute haben.

„Wir haben hier Praktikanten gehabt, die haben um einen Hauptschulabschluss gekämpft und wollten dann irgendwas mit Computer werden. Das ist dann schon ein Realitätsverlust, oder nicht?“

In den letzten zehn Jahren hat auch Michael Ratjen händeringend Nachwuchs gesucht, um einen potenziellen Nachfolger aufzubauen. Immer wieder hat er Kollegen und Freunde gefragt, Aushänge im Laden gemacht und zuletzt die Arbeitsagentur eingeschaltet. Manchmal fand er jemanden, doch nach ein paar Monaten war der dann auch schon wieder weg. Deshalb hat er insgeheim gehofft: auf Daniel, seinen letzten Lehrling, oder Kai.

Beide stehen an diesem Morgen in der Backstube und kneten mit gekonnten, flinken Handgriffen die türkischen Weizenbrote. Daniel hat seine Lehre 2016 beendet und heißt in Wirklichkeit anders. Doch der 23-Jährige hat entschieden: Er will umsatteln. Selber eine Bäckerei zu übernehmen – das wäre zum jetzigen Zeitpunkt nichts für ihn. Zu viel Verantwortung, meint Daniel.

Und Kai, der Teamplayer? Natürlich hat Michael Ratjen auch ihn gefragt, vor zwei Jahren war das. Aber Kai wollte nicht.

„Nein. War nie mein Bestreben, selbstständig zu werden. Und jetzt mit 53 ist das sowieso zu spät.“

99 Jahre Familientradition: Michael Ratjen in der Backstube (Johannes Kulms )

Michael Ratjen hat danach nicht mehr weiter gesucht. Er war einfach zu erschöpft. Und in den letzten Jahren ist dieses Gefühl immer stärker geworden.

„Du drehst dich wie ein Hamster im Laufrad und weißt genau, du kommst da nicht raus. Und das ist eigentlich das schlimmste Gefühl, denke ich so, dass du noch so dieses Funktionieren hast. Ich denke schon manchmal: Du hast nur noch diesen Tunnelblick. So, und das sind für mich schon Anfänge vom Burnout. Dass du dann so siehst, du musst funktionieren und links und rechts bleibt alles liegen.“

Der Bäckermeister hat jetzt die Backstube verlassen, sitzt in der gegenüberliegenden Erdgeschosswohnung in seinem Büro und raucht eine Zigarette. Lange Zeit machte ihm die schwere körperliche Arbeit überhaupt nichts aus. Das Hieven der schweren Mehlsäcke, das lange Stehen und das Teigkneten, das die Schultern so verspannt.

Erste Burnout-Signale mit 52

„Du stehst einfach auf und funktionierst. Wie ich 50 wurde,habe ich gedacht: Nein, eigentlich ist da ja kein Unterschied. So und mit 52, 53 habe ich das dann doch gemerkt. Wenn du dann vier oder fünf Wochen durcharbeitest, dann bist du einfach nur noch alle. Du hast auch nichts mehr vom sogenannten Leben. Du arbeitest und dann fährst du nach Hause, du sitzt fünf Minuten auf der Couch, dann schläfst du ein. Und du hast zu nichts anderem mehr Lust, sag ich mal. Das merkt man schon.“

Der Druck wurde immer größer. Michael Ratjen schläft schlecht, träumt schlecht, wacht nachts schweißgebadet auf. Er selbst nennt das „Kopfkino“.

„Dass ich abends ins Bett gehe und schon denk, so, du darfst das morgen nicht vergessen, du darfst das morgen nicht vergessen und das musst du morgen noch machen. Und da dachte ich eigentlich, dass ich im Alter gelassener bin. Aber im Gegenteil: Die letzten Jahre hat mir das mehr und mehr zu schaffen gemacht.“

Ein paar Schritte weiter steht Astrid in der Mitarbeiterküche. Sie ist seit 15 Jahren Verkäuferin in der Bäckerei. Spätestens um vier Uhr morgens beginnt Astrid mit der Arbeit, um in Ruhe den Kaffee aufzusetzen und Brötchen zu schmieren. Einfache Handwerkebrötchen ohne Tomate, Gurke und Salat.

Es dauert nicht lange und die ersten Kunden kommen. Der kleine hell erleuchtete Verkaufsraum, der von außen wie ein Lagerfeuer inmitten des stockfinsteren Gaardener Häusermeers anmutet, verströmt auch drinnen eine warme Stimmung. Und schon um kurz nach sechs in der Früh sind die ersten Stammgäste da. Er, 65 und Bewohner des Hauses, kommt jeden Morgen vor der Arbeit. Sie, 36, wohnt um die Ecke und komme jeden Tag „mindestens zwei Mal“, wie sie sagt. Beide flachsen mit Astrid rum und sind sich einig, dass die Bäckerei Ratjen einer der Mittelpunkte von Gaarden ist.

Gehören zum Inventar: Angelika Ram (l.) und ihre Kollegin Birgit (Johannes Kulms )

„Man geht ja auch immer hierher, um Freunde zu treffen. Das sind ja auch alles Freunde von uns.“

Beide kommen wegen der Menschen. Und auch wegen der Brötchen.

„Das ist deutsches Handwerk, was weggeht. Wer weiß, was hier reinkommt? Friseursalon. Oder Backbude. Haben wir hier genug an der Ecke.“

Die Stammkunden, sie verstehen Michael Ratjen, können seine Entscheidung nachvollziehen. Aber was glaubt er, würden seine Eltern, sein Onkel, sein Großeltern sagen – all jene, die den Betrieb in den letzten 99 Jahren geprägt haben?

Zwiesprache mit den Eltern

„Ich weiß, dass meine Eltern auch Verständnis dafür hätten. Mein Vater vielleicht weniger, aber meine Mutter auf jeden Fall. Ich habe Zwiesprache mit denen oben gehalten. Und das ist so in Ordnung, wie das ist. Und ich bin der, der das am längsten gemacht hat hier von allen, über 30 Jahre jetzt die Selbstständigkeit. Und in einer Zeit, wo das nicht immer einfach war, wo viele Bäckereien aufgehört haben und all so was. Und da bin ich auch ein bisschen stolz drauf eigentlich. Und deswegen ist das auch in Ordnung jetzt. Jetzt bin ich dran! Jetzt lerne ich mal Schleswig-Holstein kennen. Und nicht so wie meine Eltern, die nie in Laboe waren.“

Seit 20 Jahren sind Michael und Angelika Ratjen ein Paar. Angelika ist 48 und kümmert sich in der Bäckerei um die Buchhaltung aber auch den Verkauf und vieles mehr. Sie weiß: Mit ihrem Mann hat sie auch einen Betrieb „geheiratet“. Und der dominiert das Familienleben. Draußen ist es inzwischen hell und Angelika bringt zusammen mit Astrid mit Brötchen gefüllte Kisten zum Transporter, die gleich in einer Gaardener Schule verkauft werden.

Zehn Prozent Wehmut: Michael und Angelika Ratjen kurz vor der Schließung (Johannes Kulms )

„Wie ist jetzt beiden bei Ihnen die Stimmung eine knappe Woche vor der Schließung?“

„Ich könnte heulen! Das geht mir so ans Herz, das können Sie sich gar nicht vorstellen.“

„Wir haben ja alles durchgemacht. Wenn ein Kind von einer Kollegin krank ist – das sind ja Kollegen von uns! Das ist was anderes, wenn da die Kinder groß werden, Enkelkinder kommen, heiraten. Man macht das ja live mit!“

„Ist da trotzdem auch etwas Vorfreude darauf, dass es etwas ruhiger wird und entspannter, dass Sie daran auch schon denken?“

„Also, wo wir uns total drüber freuen ist nächstes Jahr. Unser großer Sohn wird 22, der kleine wird 14. Die kennen das gar nicht, dass wir Ostersonntag zu Hause sind. Die kennen das nicht, dass man noch Weihnachten 21 Uhr singend unter dem Tannenbaum sitzt und vielleicht in die Kirche geht. Wir sind kaputt an solchen Tagen.“

90 Prozent Erleichterung, zehn Prozent Wehmut

Und dann ist er plötzlich da, der letzte Tag des Kiezbäckers. Michael Ratjen und seine Backstube sind an diesem Morgen nicht wiederzuerkennen. Ratjen hat sich über seine Bäckerkleidung einen grün-gelb gestreiften Pulli gezogen. Die Haare sind frisch frisiert, er strahlt. Um halb acht heute Morgen hat er den Ofen ausgemacht. Für immer.

„Ich sage mal, 90 Prozent sind Erleichterung und Freude auf das, was da kommt. Und zehn Prozent sind Wehmut und ein bisschen ängstlich, wie ich damit so klarkomme. Aber die Freude überwiegt.“

In der Backstube hat Michael Ratjen eine Bierzapfanlage aufbauen lassen. Es gibt Gulasch. Und es gibt sehr viele Kunden, Anwohner und Freunde, die an diesem Vormittag vorbeikommen, um ihrem Bäcker Adieu zu sagen. Die Backstube, die frühere Ladenwohnung und auch das Treppenhaus sind voller Menschen. Es riecht nach Zigarettenrauch und Bier. Die Stimmung ist ausgelassen. Vorne im Verkaufsraum liegen jetzt nur noch ein paar Brötchen in der Auslage. Angelika Ratjen und Astrid sind überwältigt.

Michael Ratjen wirkt an diesem Samstag, seinem letzten Arbeitstag als Bäcker, vor allem erleichtert. Seine Frau Angelika dagegen macht sich etwas Sorgen mit Blick auf die Zukunft.

„Ein Tag hat 24 Stunden und den musst du erstmal vollkriegen. Weil ich noch nie in meinem ganzen Leben noch nie gearbeitet habe. Von vielen hört man, die sind zu Hause und werden krank.“

Wir haben das Glück, dass unsere Vorgänger gut vorgesorgt haben und wir es uns leisten können, jetzt in den Ruhestand zu gehen. Das hat ihr Mann mir immer wieder gesagt. Was er genau damit meint, das verstehe ich, als ich ihn und seine Familie mehr als ein halbes Jahr später in Flintbek besuche. Jenen Kieler Vorort, in dem die Ratjens seit 13 Jahren wohnen, in einem riesigen Haus, das sie von Michaels Onkel und Tante geerbt haben. Ringsherum liegen eine Reihe von Wohnungen, die ebenfalls den Ratjens gehören.

Für die Familie beginnt eine neue Zeitrechnung

Mit am Tisch sitzen neben Michael Ratjen und seiner Frau auch die beiden Söhne Jan, 13, und Nils, 22. Es hat sich etwas verändert zu Hause, meint Jan.

„Also, ich find, es ist besser geworden, weil wir nicht mehr so ein Druck haben. Früher hieß es dann immer, komm, wir müssen es jetzt machen, dann kann ich gleich noch eine Stunde schlafen.“

Viele Dinge, die für andere Kinder ganz selbstverständlich sind, waren für Nils und Jan häufig anders. Mit der Schließung der Bäckerei scheint für die Familie eine neue Zeitrechnung angebrochen.

„Ja, ich schlaf sieben, acht Stunden nachts. Das habe ich so lange nicht gehabt. So und dann stehe ich gerne morgens um sechs auf und weiß, da ist nichts, da wartet nichts außer mein Becher Kaffee und dann lasse ich den Tag langsam angehen.“

90 Prozent Erleichterung: Michael und Angelike Ratjen als Privatiers (Johannes Kulms )

Die Zeit des Kopfkinos und der schlechten Träume sei vorbei, sagt Michael Ratjen. Er schlafe nachts jetzt durch, schnarche und schwitze nicht mehr, ergänzt seine Frau. Zusammen haben sie in den letzten Monaten Reisen unternommen, die für viele andere Familien wohl normal wären – aber eben nicht für jene mit einem eigenen Handwerksbetrieb.

„Wir waren in Wyk auf Föhr, wir waren eine Woche in Spanien, in Galizien, haben unsere Freunde da besucht. Dann waren wir auf Fehmarn, wir waren auf Helgoland. Wir waren in Kroatien. Wir waren in Laboe! Laboe war ich, glaub ich, 20 Jahre nicht mehr. Also, nach und nach lernen wir jetzt Schleswig-Holstein kennen, glaube ich.“

Trotz aller Vorzüge als Privatier: Die alte Bäckerei abzuwickeln und das ganze Haus in Gaarden gleich mit zu verkaufen, war ein ziemlicher Kraftakt. Nicht nur wegen des Papierkrams. Für Michael Ratjen war es ein weiterer Abschied. Das haben auch Nils und Jan mitbekommen. Nils arbeitet in der Fertigung von Kfz-Teilen. Er ist zufrieden mit seinem Job und kann gut von der Arbeit leben. Jan geht noch zur Schule. Ich will wissen, warum beide nicht Bäcker werden wollten?

„Also, Verkauf bringt mir Spaß, aber das in der Backstube, das ist jetzt nicht mein Gebiet so vielleicht, wo man sich selbstständig machen möchte, also für mich persönlich. Da muss ich auf jeden Fall, wenn denn, was anderes machen.“

„Also, ich mag generell sehr gerne backen oder kochen“, sagt sein Bruder Jan, „aber immer wurde mir davon abgeraten, weil morgens um zwei aufstehen bis acht Uhr, dann nach Hause, vielleicht nochmal einen Kaffee trinken oder so mit einem Freund und dann pennen. Und das ist halt so ein Nachteil, wenn du Bäcker bist. Also: Ich möchte das nicht werden.“

Stattdessen könnte Jan sich vorstellen, Erzieher zu werden oder als erster in der Familie Abitur zu machen und zu studieren. Seinen Vater würde das sehr stolz machen.

Angelika Ratjen möchte wieder arbeiten

Michael Ratjen sieht glücklich aus, wie er da so sitzt am Wohnzimmertisch, ausgeruht, zufrieden. Der Tunnelblick aus der Backstube ist weg. Hat er seinen Entschluss aufzuhören jemals bereut? War er traurig, hat mal geweint? Nein, nicht ein einziges Mal, sagt Michael.

„Ich habe meinen Teil zu der Familiengeschichte beigetragen und war 31 Jahre selbstständig und das reicht.“

Für seine Frau Angelika laufen die Dinge dagegen etwas anders. Sie möchte gerne wieder arbeiten. Nur nicht bei einem Bäcker und bitte auch nicht am Wochenende! Aber zuerst muss ihr Knie operiert werden. Nach den vielen Jahren hinter dem Tresen und in der Backstube braucht sie ein neues Kniegelenk.

Ein paar Tage später habe ich mich mit Michael Ratjen noch einmal vor seiner früheren Backstube verabredet. Auf dem Weg dorthin wird er immer wieder von Passanten angesprochen. Über dem kleinen Eckgeschäft in der Iltisstraße hängt noch der Schriftzug mit seinem Namen.

„Freut es dich, dass dein Name noch dransteht?“

„Nein, weil ich denke, das ist ein Abschluss gewesen, das hätte man schon abmachen können.“

Drei Bäcker: Michael Ratjen, Adnan Taha, Mohammed Hashim (Johannes Kulms)

Die Tür ist zu und die Scheiben der Bäckerei sind mit Papier zugeklebt, aber durch einen Schlitz lässt sich zumindest ein kleiner Blick ins Innere werfen.

Plötzlich öffnet ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und Schnurrbart die Tür. Adnan Taha bittet uns hinein. Die frühere Bäckerei ist nicht wieder zu erkennen. Der kleine enge Verkaufsraum ist verschwunden, mehrere dahinter liegende Wände wurden durchbrochen. Entstanden ist ein großer, langer, weiß glänzender Raum – von einem langen Tresen mit Marmorplatte durchzogen.

Der neue Bäcker und die alten Maschinen

Michael scheint sich zu freuen. Und wirkt doch gleichzeitig irgendwie verkrampft und unsicher. Andererseits: Zu Adnan Taha scheint Michael sofort einen Draht zu finden. Taha stammt aus dem Irak, ist wie Ratjen gelernter Bäcker. Seit zwölf Jahren lebt er in Kiel, seit zwei Jahren hat er eine Bäckerei nur ein paar Straßen weiter. Nun will er auch in Ratjens früherer Bäckerei Baklawa backen. Das Problem ist: Adnan Taha und sein Kollege Mohammed Hashin wissen nicht so richtig, wie die alten deutschen Maschinen funktionieren.

Wie schön, denke ich. Vielleicht könnte der alte Kiezbäcker am Ende so doch noch seinen Betrieb übergeben. Zumindest etwas von seinem Backhandwerk weitergeben! Und vielleicht auch etwas von seiner Lebenserfahrung. Doch das, das will er nicht.

„Nein, Johannes, ich habe damit abgeschlossen. Eigentlich möchte ich das nicht mehr. Für mich war das vorher klar, dass ich rausgehe und dann habe ich auch damit abgeschlossen gehabt.“

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