Ein wilder Konkurrenzkampf

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Digitales Volksüberwachungssystem: In China steigt die Tendenz, andere online anzuschwärzen.
© Yu Kato/Unsplash und Annie Spratt/Unsplash

Die seit Gründung der Volksrepublik China

allgegenwärtige Medienzensur ist einer der Hauptgründe für die Menschen, sich Informationen in ihrem privaten Netzwerk zu suchen. Im Jahr 2008 hat eine Lokalzeitung aufgedeckt, dass in China viele Milch- und Milchpulverhersteller ihren Produkten Melamin zusetzten, um den vorgeschriebenen Proteingehalt vorzutäuschen. Viele Kleinkinder haben durch die kontaminierten Milchprodukte bleibende Schäden erlitten. Anstatt sofort anzuordnen, die Milchprodukte aus den Läden zu entfernen, war die erste Reaktion der Regierung, von allen Medien – ob online oder offline – zu verlangen, die Nachricht zu löschen.

Bereits vor dieser Enthüllung hatten Blogger vor der Kontamination gewarnt. Wachsamen Eltern hätte das helfen können. In einer Stadt, zumal einer mit starker Zensurbehörde, schlägt man sich mithilfe von Gerüchten am besten durch. Viele Chinesinnen und Chinesen lesen ständig ihre sozialen Medien, um einen Informationsvorsprung vor anderen zu haben. Auch Nachrichten über die brutalen Maßnahmen der Pekinger Stadtregierung, um im kalten Winter 2017 die „unteren Bevölkerungsschichten“ aus der Stadt zu treiben, die Tausende marginalisierte Wanderarbeiter über Nacht obdachlos machte, konnte man nur auf der WeChat-Timeline finden.

Es gibt noch andere Gründe, warum ganz China am Smartphonebildschirm klebt: der Mangel an Arbeitsschutz und der wilde Konkurrenzkampf. Arbeitgeber können von ihren Beschäftigten verlangen, rund um die Uhr für unbezahlte Überstunden zur Verfügung zu stehen. Geschäfte oder Einrichtungen müssen schneller produzieren als ihre Wettbewerber, wenn sie überleben wollen. Die Arbeitgeber stehen deshalb unter demselben Druck wie ihre Beschäftigten.

Einst Plattformen für gesellschaftliche Debatte

Der Siegeszug der sozialen Medien hat dazu geführt, dass Arbeitgeber ihren Beschäftigten viel einfacher Aufgaben stellen können, genau wie Professoren ihren Studenten, Beamten ihren Untergebenen, Kunden ihren Lieferanten, Tag und Nacht. Der in China hoch entwickelte E-Commerce hat Scharen von Onlinehändlern hervorgebracht, die eine 24-Stunden-Betreuung anbieten und in Sekundenschnelle Anfragen beantworten. Eine verspätete Reaktion auf diese Arbeitsanforderungen gilt oft als Frechheit oder Inkompetenz und schadet einem ganz direkt, in der Karriere, im Studium und im Geschäft.

Wenn man die platonische Höhle als Metapher nimmt, um die Rolle der sozialen Medien in der Gegenwart zu beschreiben, stößt man auf Unterschiede zwischen den einzelnen Höhlen rund um die Welt. Eines ist sicher: Die Höhle der Chinesisch sprechenden Welt ist planvoll und systematisch geformt worden, mit einer eigenen Strategie und mit einem schwindelerregend hohen Regierungsetat. Die Methoden zur „Regulierung“ des Internets der chinesischen Regierung wären im Handbuch für Diktatoren des 21. Jahrhunderts Stoff für ein eigenes Kapitel.

Chinas soziale Medien waren nicht von Anfang an als Höhle angelegt. Sie sind einmal Plattformen für eine offene gesellschaftliche Debatte gewesen, ein Ort der Hoffnung auf soziale Reformen. Seit Onlineforen und Bulletin Boards in den Neunzigerjahren entstanden sind, seit den Blogs um das Jahr 2005 und Weibo im Jahr 2009, wurden in China immer neue Hoffnungen abgewürgt, meist dann, wenn eine breite Onlinediskussion nach großen sozialen Krisen oder Zwischenfällen die Inkompetenz des Pekinger Krisenmanagements entlarvt hatte. Für Sina Weibo, das chinesische Twitter, kam die Wende im Jahr 2011, nach einem Zusammenstoß zweier Hochgeschwindigkeitszüge mit 40 Toten und 172 Verletzten. Livevideos einiger Weibo-User von der Katastrophe, Posts über die Unfähigkeit und Vertuschungsversuche der Bahnbeamten verstärkten die Panik und den Zorn der Regierung. Sie ging hart gegen die wichtigsten Wortführer auf Weibo vor und begann, die sozialen Medien scharf zu kontrollieren, damit sich nicht noch einmal so viel Druck auf die Regierung aufbauen lassen konnte.

Überwachung, rund um die Uhr

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und journalistische Recherchen, von Rebecca Mackinnon, Xiao Qiang von der UC Berkeley und vielen anderen, haben gezeigt, wie die hochentwickelte chinesische Propagandamaschinerie nicht nur abweichende Meinungen und Regierungskritik langsam zum Schweigen gebracht, sondern die sozialen Medien selbst zu einem wirkungsvollen Sprachrohr gemacht hat. Seit die Rolle von Facebook während der Präsidentschaftswahl in den USA ans Licht gekommen ist, haben westliche Gesellschaften viel über die Bedeutung der Manipulation sozialer Medien gelernt. Aber Chinas auf Manipulation und Kontrolle der sozialen Medien ausgerichteter Kampf mit der Onlinewelt unterscheidet sich stark von dem, was ausgereifte Demokratien heute zu bewältigen haben.

Der erste Punkt ist die auferlegte Selbstzensur der Internetunternehmen. Viele, die das Internet als schlagkräftiges Mittel zur Demokratisierung betrachteten, haben es immer für unmöglich gehalten, dass so eine Selbstzensur etabliert werden könnte. Die Geschichte hat sie eines Besseren belehrt: Aus Angst, von der Regierung dicht gemacht zu werden, haben die chinesischen Internetunternehmen, vor allem die Social-Media-Provider, ausgeklügelte Zensurmethoden entwickelt. Es gibt auf gründlicher semantischer Forschung basierende Schlagwortfilter. Es gibt Tausende Mitarbeiter, die User der sozialen Medien rund um die Uhr beobachten, und es gibt regelmäßige Berichte an die Behörden über neue Trends in der öffentlichen Meinungsbildung, zumal dann, wenn es um kritische Ansichten geht – alles finanziert von finanzstarken Internetunternehmen, von denen viele an der Nasdaq gehandelt werden.

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